Wer fernsieht, stirbt nicht!

Klaus Theweleit kritisiert in seinem neuen Buch „Der Knall“, was den Kulturkritikern zum 11. September so alles einfiel.Das ist über weite Strecken klug und scharfsichtig, kann aber mit seinem besserwisserischen Ton auch ganz schön nerven

„Dies Stew aus Geistesblitzen, Gedanken, Meinung & Dekret ergab: Murks“

von STEFAN REINECKE

„Wir haben zu lange geglaubt, es reiche, sich über mediale Effekte zu unterhalten statt über die politischen Sachen selbst. Während andere politisch handeln, regt sich das links-kreative Milieu darüber auf, wie das Ganze verkauft wird. Während der Mainstream hetzt, beklagt die metadiskursive Linke nur die Hetze, anstatt anders zu reden.“

Diedrich Diederichsen

In manchen medienkritischen Dokumentationen sieht die Kamera Fernsehjournalisten bei der Arbeit zu. Dort kann man etwa beobachten wie Interviewpartner zu Aussagen gedrängt werden oder Wichtiges einfach weggelassen wird. Mit Bildern Bilder zu kritisieren, versetzt die Zuschauer in eine komfortable Position, denn sie, die Bilderkonsumenten, dürfen hinter die Fassade schauen.

Allerdings hat dieses Verfahren einen Haken: Der Glaubwürdigkeitskredit der Bilder löst sich nicht auf, er verschiebt sich nur von Bildern, die das Geschehen abbilden, zu den Bildern, die diese Bilderproduktion zeigen. In dieser Logik bräuchte man also ein drittes Team, das den medienkritischen Dokumentarfilmern über die Schulter blickt, wie diese den TV-Journalisten bei der Arbeit zuschauen. Dann natürlich ein viertes Team – und so weiter.

So ähnlich verhält es sich mit Klaus Theweleits Untersuchung von Texten zum 11. September. In „Der Knall“ schaut der Autor nach, was andere Intellektuelle zum 11. 9. geschrieben haben: von Alexander Kluge, Susan Sontag und Kathrin Röggla über Diedrich Diederichsen, Peter Sloterdijk, Marcia Pally und Elisabeth Bronfen bis hin zu Jean Baudrillard, Slavoij Žižek, Boris Groys und Georg Seeßlen. Theweleit kritisiert die Kritiker, und ist selbst – was sonst – der (Meta-)Kritiker schlechthin. Am Ende muss man sich fragen, was er in einem erneuten Diskursrundgang dann über „Der Knall“ geschrieben hätte.

Natürlich ist Theweleit clever genug, das selbst zu sehen: „Will ich also, mit vorgetragenem OBER-ICH, die sprachlichen Merkwürdigkeiten der notorisch September-Geschädigten einsammeln, gewichten, kategorisieren? Medizinen reichen? Nein, will ich nicht.“ Aber genau dies tut „Der Knall“ weitenteils, mal scharfsinnig, mal schlecht gelaunt. Und manchmal ärgerlich, nämlich wenn Theweleits Sprecher-Ich auf das „Gemetzel um die Vorherrschaft auf Feuilletonseiten und Diskursfeldern“ herabschaut.

Das ist nur eine Distanzierungsgeste, eine verbrauchte obendrein. Im Kulturbetrieb ist nichts so sehr Common Sense wie die Verachtung des Kulturbetriebes. „Gemetzel“ um Diskurshoheit – das machen immer nur die anderen. Genau so redet man auch in den Redaktionen von Spiegel, Zeit und taz.

Kurzum: Sowenig medienkritische Bilder mehr Anspruch auf Wahrhaftigkeit haben als andere Bilder, sowenig existiert ein Jenseits der Kritik. Und jeder Versuch (wie in „Der Knall“), eine besondere Sprecherposition jenseits des Diskursgetümmels zu behaupten, ist eine Spekulation auf schnellen Distinktionsgewinn.

Es lohnt allerdings, über diese Selbststilisierung hinwegzulesen. Theweleit sucht in diesem Rezensionsessay nach dem Ich, nach der Erfahrung hinter den Großraumworten. Das ist ein produktiver Ansatz, der Versuch eines offenen Denkens, das weniger definieren als verstehen will. Es fördert im Wesentlichen zwei Erkenntnisse zu Tage. Die Bilder vom 11. September haben ein fundamentales Selbstverständnis unserer Kultur erschüttert: „Wer fernsieht, stirbt nicht.“ Die von den Terroristen kalkulierten Live-Bilder waren keine „Immunisierungsbilder mehr, sie sind umgeschlagen in Infektionsbilder.“ (Theweleit) Das trifft den Kern. Deshalb mussten wir uns diese Bilder damals wieder und wieder anschauen: um das Beängstigende durch Wiederholung zu ritualisieren, um uns selbst zu versichern, dass das Axiom „Wer fernsieht, stirbt nicht“ wirklich noch gilt.

Zweitens: Die postmoderne Kulturkritik hat sich angesichts der Fernsehbilder der explodierenden Türme des World Trade Centers im Begriffsdschungel konstruierter, realer, virtueller, geträumter, medialer Realität verloren. Theweleit glaubt, dass man sich diese verschraubte Debatte eher sparen kann: „Ist es realer, wenn ich einen Apfel esse, als wenn ich ins TV hineinschaue? Oder im Kino träume, oder den Computer lade?“ Weil wir zunehmend durch Medien kommunizieren, ist es unsinnig geworden, die wirkliche Wirklichkeit zum Eigentlichen zu erklären und mediale Realität zur weniger wahren, weniger wirklichen. Es gibt halt verschiedene Realitätsformen. Punkt.

Mit diesem etwas hemdsärmlige wirkenden, aber überzeugenden Realitätspluralismus ausgestattet, prüft Theweleit Zeile für Zeile Baudrillards, Žižeks und Boris Groys Begriffsfeuerwerke. Das Strickmuster ist stets ähnlich: Žižek & Co jonglieren zur Verblüffung des Publikums mit den verschiedenen Realititätsebenen. Im Theoriezirkus regiert die Doktrin: Je steiler die These, umso besser.

So behauptet Groys, dass al-Qaida mit „Religion überhaupt nichts zu tun hat“ und eher in den Katastrophenfilmen aus Hollywood wurzelt. Baudrillard schreibt: „Diese terroristische Gewalt ist nicht ‚real‘ “. Theweleit kommentiert fassungslos: „Was ist das nur? Dies Stew aus Gedanken, Geistesblitzen, Meinung & Dekret ergab insgesamt: Murks“. Vielleicht sind Texte, die in möglichst verwegenen Vergleichen und Paradoxa sprechen, ein Symptom dessen, was sie erklären wollen: eine Art Abwehrzauber, um dem grundstürzend Neuen des 11. Septembers auf vertrautem Gebiet zu begegnen. Es ist ja nicht zuletzt eine Entlastung angesichts der Infektionsbilder des 11. 9., das Ganze für eine Wiederaufführung des Katastrophenfilms „Independence Day“ zu halten.

Gegen die kulturkritische Marotte, alle Realitäten unterschiedslos als Texte & Zeichen zu behandeln und als Material selbstreferenzieller Gedankenspiele zu benutzen, setzt „Der Knall“ ein altmodisches, bodenständiges Erkenntnisinteresse: die Frage nach Sinn und Zusammenhang. Fündig wird Theweleit bei Diedrich Diederichsen und vor allem Susan Sontag, die zum 11. 9. präzise politische Texte ohne Independence-Day-Metaphorik schrieben. Und das ist unter dem Strich die Conclusio, das vielleicht etwas schlicht wirkende, aber plausible Gegenprogramm zur postmodernen Rhetorik: Vergesst Baudrillard, zurück zur Politik.

„Der Knall“ ist ein merkwürdiges Buch. Der Korrektoren-Ton, den der Autor trotz gegenteiliger Vorsätze öfters anschlägt, nervt. Und doch finden sich immer wieder kristallklare Sätze, die man sich über den Schreibtisch hängen kann. Zum Beispiel: „Die Realität von Kinobildern ist eine ganz andere als die einstürzender Häuser. Ihre realen Unterschiede zeigen sich etwa in der Haltung zu der Frage: Soll ich jetzt weglaufen oder nicht? Im Kino: nein. Am 11. September: ja.“ Ein schöner, richtiger Satz.

Klaus Theweleit: „Der Knall, 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell“, 280 Seiten, Stroemfeld Verlag, Frankfurt undBasel 2002, 24 €