Der komplexe Blick

Eine Arbeitsgruppe namhafter Forscher hatte schon 1991 geraten, den Begriff Geisteswissenschaften fallen zu lassen und ihn durch den neueren, umfassenderen Titel der Kulturwissenschaften zu ersetzen. Ein entsprechendes Papier war im Auftrag des Bundesforschungsministeriums zustande gekommen.

Der erste Lehrstuhl für Kulturwissenschaft wurde in den Achtzigerjahren an der Universität Karlsruhe eingerichtet. Inzwischen wurden an vielen anderen Orte entsprechende Studiengänge begründet. Allerdings wurde das Fach an jeder Universität unterschiedlich zugeschnitten: als Kulturmanagement, Kulturwirtschaft oder Kulturpädagogik.

In Münster wird Angewandte Kulturwissenschaften – Kultur, Kommunikation und Management gelehrt, in Chemnitz gibt es einen Studiengang für „Amerikanische Literatur und Kulturwissenschaft“, in Hildesheim findet sich „Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis“ im Angebot. Eine der jüngeren Schöpfungen: Die Universität des Saarlandes legte vor drei Jahren einen Studiengang „Historisch orientierte Kulturwissenschaft“ auf.

Kulturwissenschaft hat als Thema die kulturelle Form der Welt. Grundgedanke ist die Vermutung, dass sich komplexe Phänomene wie Kulturen nicht hinreichend aus der Perspektive eines Faches – etwa der Germanistik, der Geschichtswissenschaft, der Kunstgeschichte – beleuchten lassen.

Anlass für das neue Studienangebot war auch die galoppierende Arbeitslosigkeit unter den Absolventen der Geisteswissenschaften. Das Studium der Kulturwissenschaften wird häufig praxisorientiert angelegt. Mit Erfolg: Neunzig Prozent der Lüneburger Absolventen kommen auf Anhieb im Kulturbetrieb unter.

Der Studiengang – ob mehr oder weniger arbeitsmarktorientiert – ist überaus beliebt. Die Berliner Humboldt-Universität vermeldet zum jetzt beginnenden Wintersemester einen Rekord: Es gibt mehr Bewerbungen denn je. Auf 85 Studienplätze kommen 1.206 Interessenten.

Die Attraktivität des neuen Fachs mag mit dem drögen Image der klassischen Geisteswissenschaften zu tun haben – allzu theorielastig und verknöchert gehe es dort zu. Anders in der Kulturwissenschaft: Am Institut für Angewandte Kulturwissenschaften Karlsruhe werden Wechselwirkungen zwischen Kultur, Wirtschaft und Technik und deren Auswirkungen auf gesamtgesellschaftliche Prozesse untersucht.

Die Karlsruher Einrichtung wurde bereits im März 1989 als interfakultative Einrichtung gegründet – und keiner speziellen Fakultät der Technischen Universität zugeordnet. Seit dem Jahr 1990 wird das Fach „Angewandte Kulturwissenschaft“ als freiwilliges Begleitstudium angeboten, zusätzlich kann es als Nebenfach in den Geistes- und Sozialwissenschaften studiert werden.

Die Krise der Geisteswissenschaften dauert derweil an. Erstens hätten sich die praxisfernen geisteswissenschaftlichen Disziplinen unversöhnbar zersplittert. Zweitens seien deutsche Geisteswissenschaftler hinter Entwicklungen des Auslands zurückgeblieben. In den USA gibt es die humanities, in Frankreich die sciences humaines. Einen Begriff, der den deutschen Geisteswissenschaften vergleichbar wäre, gibt es in anderen Ländern nicht. MARTIN MAIER