peter ahrens über Provinz: Das Nirgendwo am Rande der Tatra
In der Slowakei lernt man Land und Leute am besten kennen, wenn man seinen Reisepass im Bus liegen lässt
Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen ein graugesichtiger älterer Herr mit flackernder Menschenbesserung im Blick darauf hinwies, dass heute der Welternährungstag sei, fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert. An Rotkohl, Steckrüben und Wirsingrouladen und daran, dass ich von den Eltern eine Ohrfeige bekam, weil ich mein Kasseler auf dem Teller nicht herunterschlingen mochte. Eine zweiten unsanften Stubs gegen den Hinterkopf gab es Jahre später, weil die Hühnerbrühe beim Familien-Bayernurlaub im Gastronomiebetrieb Zauberwald-Hintersee nicht munden wollte. An der Tatsache, dass das die einzigen körperlichen Attacken waren, die ich je von meinen Eltern erhielt, mag man ermessen, welche Bedeutung Ernährung und Verbraucherschutz auch in der kommenden Legislaturperiode zukommt. Es war schließlich damals die Zeit, als die Welt noch nicht gut, also rot-grün war. Es waren halt die wilden 70er-Jahre in Paderborn.
Jetzt ist sie gut, Frau Künast deckt auf, und ihr ganz tief innen grüner Kabinettskamerad sorgt dafür, dass die EU bis zum Ural reicht. Was nachhaltig zu begrüßen ist, weil auf diese Weise auch die Slowakei in die Familie aufgenommen wird, ein gern unterschätztes Land, quasi das Saarland des Ostens. Wer die drei größten Städte der Slowakei aufzählen soll, muss das Publikum fragen, Sehenswürdigkeiten wie Euro-Disney oder die Kapuzinergruft hat das Land nicht zu bieten, an den Häusern bröckelt der Putz. Also ungefähr so, wie Gerhard Löwenthal uns den Osten immer schmackhaft zu machen trachtete. Provinz heißt auf Slowakisch Spišská Stará Ves und ist ein Grenzkaff zu Polen irgendwo am Rande der Tatra. Wer die Qualitäten von Spišská Stará Ves richtig kennen lernen will, sollte gut daran tun, im Wanderurlaub in der polnischen Tatra einen Tagesabstecher über die grüne Grenze in die Slowakei zu machen. Man sollte dann im Laufe des Tages einen der Linienbusse Richtung polnische Grenze besteigen und dort beim Verlassen des Busses sämtliche Papiere, EC-Karte, Fotokamera, Reisepass und alles Bargeld auf dem Sitz liegen lassen. Erst dann bekommt man Zugang zu Land und Leuten.
Es ist sechs Uhr abends, wir sprechen kein Wort Slowakisch, aber in Spišská Stará Ves gibt es eine Polizeistation. Der Polizist ist jung, freundlich und kann perfekt Slowakisch. Allerdings nur das. Dafür hat er einen kleinen Sohn, der den ganzen Abend wie berauscht auf der einzigen Schreibmaschine der Polizeiwache herumhackt. An der Wand haben die Beamten stolz ihre Urkunden aufgehängt, und nun, bei diesen hilflosen Touristen aus dem Westen, können sie endlich zeigen, was sie können.
Zunächst werden wir, nachdem das Problem mit Hilfe diverser Körperteile plausibel geschildert ist, in den Polizeiwagen verfachtet. Die Autotür klemmt, es sei eben nur ein russisches Auto, wie der Beamte achselzuckend zu verstehen gibt. Ab geht’s zum Busbahnhof des Ortes. Der Polizist verschwindet mit uns beruhigenden Gesten in einem Nebengebäude und kommt mit einem eindrucksvollen Gesellen zurück, mächtiger Schnauz im Gesicht und von Kopf bis Fuß in Militärtarnlook – vielleicht ein serbischer Tschetnik, der in der Slowakei Asyl gefunden hat. Die beruhigenden Gesten gehören auch zu seinem Repertoire. Die beiden setzen sich in den Dienstwagen und sind erst einmal weg. Nach zehn Minuten kommen sie zurück, haben einen jungen Burschen mit dabei, der wortreich auf uns einzureden beginnt. Wir ahnen, er ist ein Busfahrer, und wir wissen, es ist nicht derjenige, der uns kutschiert hat. Also geht es retour zur Wache, der kleine Junge ist immer noch nicht müde, und die Schreibmaschine ist seine Freundin.
Um es den Touristen so angenehm wie möglich zu machen, malträtiert ein anderer Beamter – offenbar die Nachtschicht – die Fernbedienung des Fernsehers, so lange, bis auf dem Bildschirm das Logo RTL2 auftaucht. Wir sitzen an der slowakisch-polnischen Grenze, draußen ist es dunkel, und im Fernsehen erklärt uns eine ungelernte TV-Hilfskraft mit angemessen leerem Gesicht, wie viel Müll die Enthüllung des Brandenburger Tores zurückgelassen hat. Und dabei ist diese Fernsehsendung da noch gar nicht mitgerechnet.
Die Nachtschicht spricht ein bisschen Englisch und erzählt, dass im Moment polizeimäßig nicht viel los sei. Bei größeren Sachen, zum Beispiel bei Schlägereien, holten sie ohnehin die Kollegen aus der Stadt zu Hilfe. Zwischendurch telefoniert er immer mal wieder und hat irgendwann die Frau unseres Busfahrers an der Strippe. Der hat unsere Reisetasche mit allen Unterlagen tatsächlich im Bus gefunden, wohnt allerdings hundert Kilometer entfernt und kommt erst am nächsten Tag wieder in die Gegend.
Also sieht sich ein slowakischer Beamter in der Pflicht, für eine angemessene Unterkunft seiner Schutzbefohlenen zu sorgen. Alle beiden Pensionen des Ortes sind ausgebucht, also werden wir wieder in das Polizeiauto gesteckt, um auf Quartiersuche zu gehen. Gegen Mitternacht hat er etwas für uns aufgetan, eine ehemalige sozialistische Feriensiedlung des Gewerkschaftsbundes, die Wasserhähne tropfen, die Matratzen sind durchgelegen, die Mücken kleben im Fensterkitt. Wir haben selten besser geschlafen. Der Beamte sagt zum Abschied: „If you have trouble, call police.“
Am nächsten Tag sind Papiere, Geld und der ganze Rest wieder da, es regnet in Strömen. Die Slowakei muss Mitglied der EU werden.
Fragen zu Provinz?kolumne@taz.de
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