: Geld verbrennen
Aus der Mühe und dem Knirschen eine Ästhetik der Verfehlung gewinnen: Frank Castorf inszeniert Dostojewskis „Idiot“ an der Berliner Volksbühne
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Als die Geschichte der Eisenbahnfahrt begann, entstanden Legenden von der Seele, die langsamer reist, gewissermaßen zu Fuß, und den Körper erst Tage später wieder einholt. An die Beschleunigung haben wir uns gewöhnt, aber noch immer ragen Kunstwerke in unsere Gegenwart, die von einer anderen Ökonomie der Zeit geprägt sind. Um Dostojewskis Roman „Der Idiot“ zu lesen, braucht man die kleinen Herbstferien, mindestens. Besser noch wäre ein Leben im Rhythmus der „Drei Schwestern“ Alexandra, Adelaida und Aglaja, die um halb eins frühstücken, mit kleinen Koteletts und so weiter, bevor sie sich so gestärkt den Rest des Tages mit ihren Gefühlen auseinander setzen.
Heute dagegen wird der Zeittakt des Tages eher von Nachrichten und Werbepausen bestimmt, und wer Stunden mit einem Roman auf der Couch liegt, hat gewissermaßen schon das Gefühl, sich abgekoppelt zu haben. Das ist schon fast so ein Luxus, wie wenn man Geld verbrennt. Nastassja (Jeanette Spassova), von deren Gefühlen im „Idioten“ mindestens drei Männer ihre weitere Existenz abhängig machen, wirft einmal ein Paket mit hunderttausend Rubeln ins Feuer: Soll sich die Finger verbrennen, wer Geld und Liebe verwechselt. Fast alle glauben an die Käuflichkeit der Gefühle und wundern sich nicht darüber. Aber um ihre Unabhängigkeit von diesem Tauschgeschäft zu beweisen, gehen Dostojewskis Charaktere bis zur Selbstzerstörung.
Der Regisseur Frank Castorf und sein Volksbühnenteam brauchen immerhin noch knapp sechs Stunden für den „Idioten“. Darauf stellt sich das Publikum mit einem gewissen sportiven Ehrgeiz ein. Am Ende ist man erst einmal froh, alles bewältigt zu haben. Die Seele aber, das weiß man noch aus den vorausgegangenen Dostojewski-Adaptionen, reist nach. Die Personen verfolgen einen, auch noch nach Tagen, und erweisen sich gerade dort, wo ihr Idealismus in den Nihilismus kippt, als ungeheuer hartnäckige Subjekte. Sie haben sich die Zähigkeit von Romanfiguren bewahrt. Das ist schon erstaunlich in einem Kontext, der sich die Dekonstruktion als Grundkurs verschrieben hat.
Ippolit (Alexander Scheer) zum Beispiel, der sich vom Rand des Geschehens langsam ins Zentrum vorarbeitet, von der Menschenverachtung zum unbedingten Bedürfnis nach Teilnahme, von der totalen Verweigerung zur Entdeckung des Glücks. Schwindsucht und pubertärer Größenwahnsinn zehren seinen dünnen Körper aus. Mit einem starken Grünstich erscheint er auf den Monitoren, die einen großen Teil der Inszenierung dominieren, wie ein phosphoreszierender Leichnam.
Von den Frauen ist Lisaweta Jepantschina (Sophie Rois) die stärkste Figur, eine auf das Glück ihrer Töchter bedachte Mutter. Sie trägt die eigene Naivität, das Gute zu wollen, vor sich her wie ein Schild, an dem Intrigen zerbrechen wie Zunder. Notfalls bringt sie fauchend und zischend wie Tiger und Schlange mit der Peitsche Ordnung in den Haufen der Betrüger. Nie sah man bisher die herzzerschneidende Hysterie Sophie Rois' so sehr in Mut und Beschützerinstinkt verwandelt.
Der Idiot, Fürst Myschkin (Martin Wuttke), verliert sich dagegen in den Spiegelbildern, die er den anderen zurückgibt. In seinem Bemühen, für jeden das Vertrauen in die eigene Empfindsamkeit zu wecken und das Kalkül abzustreifen wie ein schlecht sitzendes Kostüm, verbraucht er sich vor unseren Augen mehr und mehr.
Ständig staunt man über Sätze, die den Zynismus aus dem Endstadium des Kapitalismus treffend beschreiben und schon im Roman zu finden sind. Jetzt aber hört man sie in einer Kulisse aus halbseidenen Clubs, Tankstellenspätkauf und Imbissbude. Die Stadt, die Bert Neumann als Bühnenbild (nicht nur für diese Inszenierung) gebaut hat, ist im urbanen Bodensatz lokalisiert.
Doch zugleich beschleunigt das Bühnenbild eine programmatische Dekonstruktion des Theaters. Das Publikum, das auf der Drehbühne in einem dreistöckigen Gerüst mitten zwischen den Kulissenhäusern sitzt, nimmt an der fertigen Inszenierung fast wie an einem Making-of teil. Denn wir sind auf kleine Videokameras und einige wieselflinke Kameramänner und -frauen angewiesen, um überhaupt etwas mitzubekommen. Nur wenige Szenen spielen im offenen Raum der Stadt, die meisten in intimen bis klaustrophobischen Räumen. Die Zuschauer auf der Drehbühne werden zwar bis vor die Fenster des jeweiligen Hauses gefahren, dann aber zerren die Schauspieler die Vorhänge zu, lassen Rollos schnalzen und Jalousien herabknallen, und je spannender es wird, desto mehr ist man ausgeschlossen. Bleibt nichts, als in kleine Fernseher zu starren, die überall angebracht sind.
Zwar spiegelt die Absurdität, eine ganze Stadt zu bauen, um dann bloß ins Geviert eines flachen Bildschirms eingequetscht zu erscheinen, die reale Verschwendung der Ressourcen und Verschiebungen im Haushalt der Gefühle. Leichter heult es sich vor dem Fernseher, als mit wirklichen Schmerzen umzugehen. Trotzdem ist diese Verdoppelung des Verlustes von Sinnlichkeit gemein. Das Theater hält uns am ausgestreckten Arm und erlaubt den Zugang zum Zentrum seiner Kraft nur durch das Format der Soap Opera.
Trotz der oft nahe liegenden Analogien zur Gegenwart ist die Inszenierung des „Idioten“ weniger durchlässig als die vorausgegangenen Expeditionen in die russische Literatur. Vielleicht weil ein Teil der Kapitalismuskritik der Nachwendezeiten jetzt einfach abgearbeitet ist; vielleicht weil das Arbeitsprinzip, 800-Seiten-Romane auf einige Stunden runterzukochen und aus der Mühe und dem Knirschen eine eigene Ästhetik der Verfehlung zu entwickeln, inzwischen sehr routiniert beherrscht wird. So gleicht das Ergebnis doch ein wenig einer Auszeit, Ferien, die das Castorf-Team von sich selbst bei Dostojewski nimmt.
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