: Der Tag der Entgiftung
Der Regierende Bürgermeister versucht die durch die „Giftliste“ mit internen Sparvorschlägen entstandenen Schäden zu beheben. Finanzsenator Sarrazin sagt im Senat: „Niemand ärgert sich darüber mehr als ich.“ PDS verzichtet auf Koalitionskrach
von ROBIN ALEXANDER
Es war der schwerste Härtetest für die rot-rote Koalition seit dem Abgang von Gregor Gysi. Für erhebliche Aufregung sorgte eine so genannte Giftliste mit internen Sparvorschlägen aus der Finanzverwaltung, die eine Woche vor der Bundestagswahl in die Öffentlichkeit lanciert wurde.
8.30 Uhr: Im Amtszimmer des Regierenden treffen sich die SPD-Senatoren zur Vorbesprechung der Senatssitzung. Ungewöhnlich: Alle sozialdemokratischen Senatoren sind pünktlich. Finanzsenator Sarrazin muss sich von seinen Parteifreunden deutliche Worte anhören. Vor allem Bildungssenator Klaus Böger ist sauer, sieht die Giftliste doch eine hundertprozentige Erhöhung der Elternbeiträge für Kitas bei gleichzeitiger Vergrößerung der Kitagruppen vor. „In unserer Vorbesprechung ging es deutlich robuster zu als im Senat“, berichtete ein Teilnehmer.
8.35 Uhr: In Raum 141, dem „Bürgermeisterzimmer“, beginnt die Beratung der PDS: Stefan Liebich, der Partei- und Fraktionschef, ist erkrankt und nimmt nur unter Schmerzen teil. Er hatte Wowereit schon öffentlich aufgefordert deutlich Stellung zur Sparliste zu beziehen. Liebich spricht den Unmut der Parteibasis an. Hauptärgernis in Ostberlin sind nicht die Kürzungen bei der Sozialhilfe oder die Kita-Gebühren, sondern die Streichung der Zuschüsse für den Tierpark Friedrichsfelde. Das Szenario einer Schließung des Ostzoos hat den Genossen im Umfragetief gerade noch gefehlt. Ruhige Worte an die Senatorenkollegen richtet aber Wirtschaftssenator Harald Wolf: Man dürfe „auf keinen Fall aufgeregt agieren“, mahnt der heimliche Kopf der Berliner PDS. Er führt aus, die Liste müsste als „aussagelos“ bezeichnet werden, aber „ohne den Eindruck zu erwecken, es gäbe keinen Konsolidierungszwang“.
10.00 Uhr: Die Senatsitzung beginnt. Wichtig wird es gleich ganz zu Beginn. Das Protokoll sieht vor, dass nicht auf der Tagesordnung eingeplante Themen nur an zwei Stellen abgehandelt werden können: als „Besondere Angelegenheit“ ganz zu Beginn oder unter „Verschiedenes“ ganz am Ende. Schon damit sendet der Regierende ein Signal: Wie wichtig ist dem Senat die Aufregung über die Giftliste? Wowereit hat sich entschieden, den möglichen Konflikt niedrig zu hängen. Er blickt auf den in seiner Funktion als PDS-Fraktionschef anwesenden Liebich und sagt lächelnd: „Und unter ‚Verschiedenes‘ – weiß ich ja schon – haben wir einiges zu besprechen.“ Alle schmunzeln, auch der erst 29-jährige PDS-Chef. Da ist klar: Aus der Aufregung um die Giftliste wird kein Koalitionskrach werden.
10.15 Uhr bis 11.45 Uhr: Im Senat geht es jetzt nicht um die Giftliste. Eine Vorlage zum neuen Verbraucherschutzgesetz wird angenommen. Es gibt eine Debatte um das Metropol-Theater und das Theater des Westens ohne Entscheidung. In der Stadt überschlagen sich derweil die Gerüchte. Bei der Giftliste handele es sich nicht um ein „reines Beamtenpapier“. Vielmehr habe der Finanzsenator dafür extra eine Arbeitsgruppe eingesetzt und sei über die Ergebnisse ständig informiert worden. Tatsächlich hat Sarrazin vor drei Wochen selbst als Erster von der Existenz einer Liste gesprochen.
Kurz nach 12 Uhr: Wowereit beginnt die Debatte über „Verschiedenes“ mit einem Scherz. Anschließend redet Liebich. Die Liste sei „nicht hilfreich“ und „vergifte das Klima“. Auf Liebichs Forderung, der Senat müsse sich klar äußern, geht Wowereit sofort ein: Er werde um 14 Uhr selbst vor die Presse treten und klar machen, dass die veröffentlichten Sparvorschläge kein politisches Konzept des Senats sein. Sarrazin gibt sich demonstrativ zerknirscht. Nach Angaben von Teilnehmern sagt er: „Niemand ärgert sich darüber mehr als ich.“ Ende der Senatssitzung
12.30 Uhr: Wichtige Amtsgeschäfte: Wowereit eröffnet die Lichtenberger Wirtschaftstage.
14.00 Uhr: Senatspressekonferenz. Wowereit nimmt sofort das Wort: „Diese Liste aus der Verwaltung ist kein politisches Konzept.“ Er verweist auf ein Interview mit der taz von Anfang September und zitiert sich selbst: „Nicht alles, was in den Denkstuben der Finanzverwaltung ausgeheckt wird, ist so in der Wirklichkeit umsetzbar. Der Finanzsenator ist nur ein Teil der Landesregierung und bestimmt nur einen Teil der Politik. Die Gesamtverantwortung trage ich.“ Zu einzelnen Punkte der Liste werde der Senat allerdings keine Stellungnahme abgeben. Es sei „Aufgabe der Finanzverwaltung, auch Dinge zu Papier zu bringen, die nicht durchführbar sind“. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erklärt Wowereit: „Da macht jemand Politik. Da will jemand Schaden anrichten.“
15.00 Uhr: Die PDS hat eine außerordentliche Fraktionssitzung einberufen. Die Senatoren sind nicht da, Liebich ist beim Arzt. Seine Stellvertreterin Carola Freundl leitet die Sitzung. Am Anfang Aufregung. Gesine Lötzsch fordert sogar die Einsetzung des Koalitionsausschuss. Hintergrund: Lötzsch kämpft in Lichtenberg um ein Direktmandat und spürt die miese Stimmung für die PDS unmittelbar im Wahlkampf. Die Mehrheit der Abgeordneten spricht sich jedoch dagegen aus.
17.00 Uhr: Die Vorsitzende des Hauptausschusses, Helga Dunger-Löper (SPD), beruft eine Sondersitzung für den 23. September ein. Einen Tag nach der Bundestagswahl. Die Opposition: ein Skandal.
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