: Keine Angst vor blauen Briefen
Gegen die große Koalition der Schuldenmacher im EU-Ministerrat ist die EU-Kommission, angeblich die „Hüterin der Verträge“, völlig machtlos
aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER
Wie weise es war, einen weltfremden Wirtschaftsprofessor aus Bologna zum Präsidenten der Europäischen Kommission zu machen, hat sich gestern ein weiteres Mal erwiesen. Während sich Hans Eichel mit der Frage quälte, wie er Währungskommissar Solbes schonend das täglich wachsende deutsche Haushaltsloch beibringt, vertraute dessen Chef Romano Prodi der französischen Tageszeitung Le Monde an, was er vom Stabilitätspakt hält: „Ich weiß sehr wohl, dass der Stabilitätspakt dumm ist, wie alle Entscheidungen, die rigide sind.“
Hätte ich das mal früher gewusst, wird sich der deutsche Finanzminister gesagt haben. Denn er starrt seit Wochen auf die magische Schwelle von drei Prozent Neuverschuldung, die in Brüssel eine Prozedur in Gang setzt, an deren Ende Bußgelder in Milliardenhöhe stehen können. Noch am Dienstag hatte Eichel dem Währungskommissar in einem Telefongespräch versichert, die politischen Projekte der wieder gewählten Koalition verletzten den Stabilitätspakt nicht.
„Ein deutliches Loch“
Darauf erklärte Solbes einen Tag später, er sei „sicher“, dass Deutschland sein Defizit ab kommendem Jahr abbauen werde. Diese Sicherheit dürfte im Lauf des gestrigen Nachmittags geschwunden sein. Denn da zog Eichel plötzlich die Steuereinnahmen von September aus dem Ärmel und gab zu: „Wir haben für dieses Jahr ein deutliches Loch.“
Sollte Deutschland tatsächlich über die Dreiprozentschwelle kommen, müsse die Kommission das Verfahren starten, das im Fall eines übermäßigen Defizits im Stabilitätspakt vorgesehen ist, erklärte Solbes prompt (s. Grafik). Schließlich hatte die Kommission kurz zuvor beschlossen, eben dieses Verfahren für Portugal einzuleiten. Hätte der Währungskommissar die stündlich schlechteren Haushaltszahlen aus Berlin ignoriert, wäre ihm zu Recht vorgeworfen worden, er hänge die Kleinen und lasse die Großen laufen.
Aber genau so wird es nun kommen. Zwar erinnerte ein Solbes-Sprecher gestern Mittag daran, die EU-Kommission habe mit ihrer Frühwarnung vor der Sommerpause die Voraussetzung erfüllt, um Deutschland jetzt in die Zange zu nehmen. Doch der „blaue Brief“ wurde damals gar nicht abgeschickt, weil die Finanzminister, die das letzte Wort haben, ihn stoppten.
Gegen die große Koalition der Schuldenmacher im Rat ist die EU-Kommission, angeblich die „Hüterin der Verträge“, völlig machtlos. 26 Stimmen sind im Ministerrat nötig, um den Stabilitätspakt auszuhebeln. Deutschland, Frankreich, Griechenland und Portugal etwa könnten sich zusammentun. Aber auch die drei großen Länder Deutschland, Frankreich und Italien brächten genug Stimmen zusammen.
Aus den kleinen Ländern Österreich, Belgien, Holland oder Irland, die sich strikt an den Pakt halten, gab es vor Redaktionsschluss noch keine Stellungnahme. Auch die amtierende dänische Ratspräsidentschaft hält sich zurück, da Dänemark den Euro nicht eingeführt hat. Deshalb führt Griechenland derzeit die Gruppe der Euroländer – dort ist das Haushaltsloch aber so groß, dass ebenfalls ein blauer Brief droht.
Mangelnde Autorität
Beim letzten EU-Finanzministerrat Anfang Oktober hatte Österreichs Finanzminister Grasser gesagt: „Weil vier Länder Probleme haben, können wir nicht sagen, wir nehmen den Druck heraus und brechen die Regeln.“ Genau das aber geschieht jetzt. Und so hat der zerstreute Professor aus Bologna im Gespräch mit Le Monde letztlich nur ausgesprochen, was in vielen Hauptstädten gedacht wird: „Der Stabilitätspakt ist unvollkommen, das stimmt, aber Sie wissen genau, wenn wir flexible und intelligente Maßnahmen anstreben, brauchen wir die politische Autorität, um sie durchzusetzen.“
Diese Autorität hat die Kommission nicht und wird sie nicht bekommen, wenn ihr Chef so offensichtlich vor der Machtfülle der Flächenstaaten resigniert. Nächsten Donnerstag will Währungskommissar Solbes nach Berlin reisen, um sich von Finanzminister Eichel persönlich die Situation in Deutschland erläutern zu lassen. Ändern wird das nichts. Aber die beiden dürften sich gut verstehen, denn sie haben beide eine ähnlich undankbare Rolle zu spielen: die des Buchhalters und Pfennigfuchsers, der die Sparbeschlüsse noch ernst nimmt, über die die Chefs sich längst hinweg gesetzt haben.
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