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Der Graue Panther des Ostens

Bei Ministers zu Hause: Die übermenschlich zähe Lebenskraft des Dr. Manfred Stolpe

„Die drucken das so klein heutzutage, da muss der Gerd unbedingt ein Gesetz erlassen“

Der kurze Kiesweg zur Villa von Manfred Stolpe in der Heinrich-Mann-Allee 107 in Potsdam wird von einem äußerst robusten schmiedeeisernen Geländer gesäumt, das sich über eine breite Marmortreppe bis zur Eingangstür zieht. „Dr. Manfred Stolpe“ steht in großen, goldfarbenen Buchstaben auf dem Klingelschild, „bitte mehrmals klingeln“. Nach langen Minuten des Wartens öffnet ein junger Mann mit Jeanshose und langen Haaren: „Kommen Sie herein, Herr Stolpe ist gleich so weit.“

An der Garderobe in der Eingangshalle der Villa hängen beige Übergangsmäntel und champagnerfarbene Strickjacken. Die Luft riecht etwas abgestanden. Vorbei an merkwürdigen, hinter Vorhängen nur halb zu sehenden Geräten führt uns der junge Mann ins Empfangszimmer des populärsten Politikers Ostdeutschlands, der jetzt überraschend auch noch Bundesminister für Verkehr, Bau und Aufbau Ost geworden ist.

„Setzen Sie sich“, ertönt sofort der sonore Bass des Hausherrn, der mit hochgelegten Füßen auf einem Sofa lagert und gebannt das in erstaunlicher Lautstärke ablaufende Nachmittagsprogramm des ZDF verfolgt. „Meine Frau ist noch in der Praxis“, sagt Stolpe und schaltet das Fernsehgerät widerwillig etwas leiser. „Die weiß noch gar nicht, dass ich weitermache, aber vielleicht kann der Torsten uns ja einen Kaffee bringen. – Torsten?“ Der junge Mann nickt erst und brüllt dann kräftig „Ja, mach ich“, bevor er langsam schlendernd den Raum verlässt.

„Ich bin zwölf Jahre lang Ministerpräsident des Landes Brandenburg gewesen“, beginnt Stolpe sofort ungefragt zu deklamieren, „und mir ist es gelungen, den Aufbau Ost entscheidend voranzubringen. Wenn diese vertrackte Länderfusion und dieser ärgerliche Cargolifter nicht gewesen wären, würden die Journalisten heute nicht so respektlos mit mir umgehen.“ Stolpe, der „graue Wolf der Zone“, redet sich, den Blick nicht von der Mattscheibe wendend, etwas in Rage. Zeit, sich im Empfangszimmer des „Ostpräsidenten“ etwas umzusehen: Auf Stolpes wuchtigem Sekretär aus Kirschholz liegen Berge von Akten, Zeitungsausschnitten und einige Medikamentenpackungen. „Ginseng“, und „Darm-Aktiv“ lesen wir erstaunt.

„Ich bin ein pommerscher Dickschädel, ein preußischer Soldat“, predigt Manfred Stolpe in Richtung Fernseher. „Wenn ich gerufen werde, dann komme ich auch. Und dieses Baudings mit Verkehr und Ostaufbau dazu ist schließlich auch nicht verkehrt. Schade nur um den Urlaub – ich wollte mit Ingrid auf die Kanaren. Wissen Sie“, Stolpe dreht sich jetzt verschwörerisch in unsere Richtung, „das Klima dort, das ist ja ganz anders als hier, wärmer, wissen Sie, besser für Ischias und Rheuma, und ich hab doch …“

„Kaffee!“, unterbricht Torsten den „Messias des Ostens“ und serviert. Als der junge Mann den Raum verlassen hat, beginnt Stolpe konspirativ zu flüstern: „Ich werde den Verdacht nicht los, dass er mich beklaut. Ich bin ja so auf ihn angewiesen, wissen Sie, aber diese Zivildienstleistenden sind auch nicht mehr wie früher. Immer fehlt irgendwas, und ich muss dann stundenlang suchen. Neulich kam ich zu spät ins Kanzleramt, weil der Torsten meine Lupe versteckt hatte.“ Stolpe tastet etwas fahrig auf dem kleinen Beistelltischchen vor dem Sofa herum. „Die drucken die Fernsehzeitschriften heutzutage so klein, dass kein Mensch das mehr lesen kann – da muss der Gerd unbedingt ein Gesetz erlassen!“

Stolpe dreht den Fernseher wieder lauter und legt sich eine braune Wolldecke über die Beine. „Ich werde als ständiger Mahner am Kabinettstisch sitzen und für den Osten die Stimme erheben. Diese grünen Chaoten werden schon noch lernen, was Respekt vor dem Alter bedeutet!“

Unter der Decke beginnt Stolpe zusehends heftiger mit den Beinen zu strampeln: „Zweite Wahl– von wegen zweite Wahl! Ich bin der Kanzler des Ostens, der Hoffnungsträger der Deutschen Demokratischen Republik, und wenn ich diese Stasischeiße noch ein einziges Mal höre, dann …“ „Herr Stolpe muss jetzt seine Ruhe haben“, unterbricht Torsten den Redefluss seines Dienstherrn, „die Fußpflegerin wartet bereits, bitte gehen Sie jetzt.“

Voll Bewunderung für die schier übermenschliche zähe Lebenskraft des Grauen Panthers des Ostens verlassen wir sein Refugium. Beim Hinausgehen grüßt uns eine Dame in weißem Kittel. Ein Windstoß aus der geöffneten Haustür lässt die Vorhänge im Flur etwas zurückschwingen. Dahinter erblicken wir für einen kurzen Moment noch eine Gehhilfe, einen mit Frottee bezogenen „Lifta“-Treppenlift und eine Klinikpackung Seniorenpampers. Dann entfernen wir uns über den Kiesweg vom freundlich winkenden Torsten, raus auf die Straße, immer am Geländer entlang. Ob Manfred Stolpe die Legislaturperiode übersteht? Wir wissen es nicht. Vielleicht weiß es Torsten. MT

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