: Im Wiesnwahlwahn
Am Sonntag wird auf dem Münchner Oktoberfest schwer was weggewählt
Ein heftig lallender Mensch in Landhaustracht, der sich nach acht Maß Wiesnbier kaum mehr auf den bewadlstrumpften Beinen halten kann, wird von zwei FDP-Hostessen im gelben Dirndl in die Mitte genommen und zur Wahlbox des Armbrustschützenzelts geführt. Nach Kontrolle seiner Zeltwahlunterlagen schwankt der wahlwillige Münchner in die Kabine und studiert den Wahlzettel glasigen Blicks. Schließlich macht er seine zwei Kreuze, steckt den Zettel in den Umschlag und torkelt zur Urne, wo er beim dritten Versuch den Schlitz trifft. Nach erfolgreicher Stimmabgabe spielt die Blaskapelle „Ein Prosit der Wahlgerechtigkeit“, die beiden Wahlhelferinnen führen ihn wieder zu seinem Platz und händigen ihm zwei Freibiermarken aus – für jede Stimme eine. So wird es am 22. September auf dem Münchner Oktoberfest zugehen, so macht Wählen wieder richtig Spaß!
Die Einführung der Zeltwahl war notwendig geworden, weil der Termin der Bundestagswahl mit dem Wiesneröffnungswochenende zusammenfällt. Um der wachsenden Wahlverdrossenheit entgegenzuwirken, einigten sich alle Parteien, dieses Jahr neben der Briefwahl erstmals auch die Zeltwahl zuzulassen. „Wenn die Menschen nicht mehr zur Wahl gehen, müssen wir eben die Wahl zu ihnen bringen, wir müssen ihnen entgegenkommen, sie dort abholen, wo sie ihren Maßkrug stemmen“, meint Franz Hafler, der Wiesnwahlvorstand. In jedem Festzelt wurden deshalb Wahlboxen eingerichtet, ein von den Parteien organisierter Begleitservice sorgt bei zu stark schwankenden Wahlbürgern für den aufrechten Gang zur Wahlkabine, Freibiermarken sollen die zuletzt stark gesunkene Wahlbeteiligung ankurbeln. Die Rechnung könnte aufgehen – von Wahlenthaltsamkeit wird am 22. September nichts zu spüren sein, Experten rechnen mit einer Wahlbeteiligung von über 95 Prozent.
Die Terminübereinstimmung von Wiesn und Wahl lassen sich selbstverständlich auch die Spitzenkandidaten nicht entgehen und verlegen die Abschlussauftritte ihres Wahlkampfs publikumswirksam in die großen Festzelte. Millionen Fernsehzuschauer in ganz Deutschland können sich so eine letzte Entscheidungshilfe für die Stimmabgabe holen. Edmund Stoiber wird auch in diesem Jahr mit süß-säuerlichem Lächeln mit ansehen müssen, wie Münchens SPD-OB Christian Ude das erste Fass anzapft und damit die Wiesn eröffnet. Gleich nach der ersten Maß wird der bayerische Ministerpräsident aber ins Hofbräuzelt wechseln, um dort den neuen Wiesnhit „I bin der Edmund aus Bayern“ zu intonieren. Da lässt der Kanzler sich nicht lange bitten. Gerhard Schröder wird nach einer kurzen, launigen Ansprache im Schottenhamel-Zelt den Dirigentenstab schwingen – wobei sich zeigen wird, welcher der beiden Kandidaten die größere Schunkelkompetenz mitbringt.
Ein Wiesnwahlkampf wird nicht in erster Linie argumentativ geführt. Auf dem Volksfest soll der mündige Bürger spielerisch an die große Politik herangeführt werden. Eine Fahrt mit der neuesten Wiesnattraktionen, der Westerwelle, einer Achterbahn mit 18fachem Looping, ein Kräftemessen bei „Hau den Edmund!“ oder eine Fahrt durch „Die grüne Hölle“, in der Claudia-Roth-Geister den todesmutigen Fahrgästen mit quengelnder Stimme Politstatements entgegenschleudern, machen auch dem eingefleischten Wahlmuffel Lust auf die Stimmabgabe. Wenn dann noch Möllemann mit dem Fallschirm eine Punktlandung auf dem Riesenrad hinlegt und Exverteidigungsminister Scharping in der SPD-Schießbude für jeden Fehlschuss ein Autogramm als Trostpreis verteilt, ist die Wahlbegeisterung endgültig in trockenen Tüchern: Politik zum Anfassen, zum Abfahren, zum Draufhauen.
Spätestens um 18 Uhr, wenn auch die Zeltwahlboxen schließen, wird die reiche Stimmenernte eingefahren sein. Und selbstverständlich hoffen alle, Kampa, Kompetenzteam und Guidomobil-Besatzung, dass es nicht alle so halten wie Erwin Klostermaier aus Ebersberg, der einem Reporter schon Tage vor der Stimmabgabe lallend bekannte: „Ich wähle HBP, die Hofbräu-Partei. Damit sie auch über die Fünfpromillehürde kimmt.“
RÜDIGER KIND
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen