: „Sonst wird zu viel Blut fließen“
Musicalbesuch endet mit Geiselnahme: 500 Menschen sind in der Gewalt tschetschenischer Rebellen. Die Geiseln appellieren an Präsident Putin
aus Moskau KARSTEN PACKEISER
Einen Tag nach der Sturm eines Moskauer Musicaltheaters durch ein tschetschenisches Himmelfahrtskommando stellen sich die russischen Behörden auf einen langwierigen Verlauf des Geiseldramas ein. Die Terroristen haben zwar einige Geiseln freigelassen. Aber rund 500 Menschen befanden sich gestern noch in der Gewalt der Kampfgruppe. Eine Frau wurde am Nachmittag von den Tschetschenen erschossen.
Genau 711 Eintrittskarten für das Erfolgsmusical „Nord-Ost“ waren am Mittwochabend verkauft worden. Auch 60 Ausländer kamen in das Theater im Südosten Moskaus, um sich das Drama um eine Liebe im Russland der Revolutionsjahre anzusehen. Nicht alle Schauspieler konnten wie geplant ihre Partie singen. Zu Beginn des zweiten Aktes stürmten mehrere Dutzend Bewaffnete Männer die Bühne, erklärten alle Zuschauer und Schauspieler zu Geiseln und forderten den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Einige Mitglieder der Musicaltruppe, die sich in den Künstlergarderoben versteckt hatten, konnten sich durch Fenster aus dem Theater abseilen. Die Geiseln gaben zunächst mit ihren Handys und per SMS ein ungefähres Bild der Lage an die Außenwelt weiter.
Bereits in der Nacht wurde das Gebäude des Musicaltheaters abgeriegelt. Schützenpanzerwagen blockierten die Zufahrtsstraßen. Rettungswagen und Feuerwehreinheiten wurden in die Uliza Melnikowa, die Straße, an der das Theater liegt, beordert. Scharfschützen bezogen Posten auf den anliegenden Häusern. Ein benachbartes Militärkrankenhaus wurde evakuiert, in angrenzenden Schulen fiel am Donnerstag der Unterricht aus. Oberbürgermeister Juri Luschkow rief die Einwohner der russischen Hauptstadt auf, nicht in Panik zu verfallen.
Der mutmaßliche Anführer des tschetschenischen Geiselnehmerkommandos Mowsar Barajew (siehe großer Kasten), war erst in der vergangenen Woche vom Inlandsgeheimdienst FSB für tot erklärt worden. Der so dramatisch Wiederauferstandene gab bekannt, seine Kämpfer seien nicht nach Moskau gekommen, um zu überleben, sondern um zu sterben. Die Geiselnehmer stellten dem Kreml ein Ultimatum, innerhalb von sieben Tagen alle Einheiten aus Tschetschenien abzuziehen.
Anders als Extremisten im Nahen Osten neigten die tschetschenischen Kämpfer in der Vergangenheit nicht zu Selbstmordattentaten. Bereits in den Neunzigerjahren hatten tschetschenische Kampftruppen dagegen mit ihren Überraschungsüberfällen auf Budjonnowsk und Kisljar eine ähnliche Taktik im Krieg gegen Moskau erfolgreich angewandt (siehe kleiner Kasten). In beiden Fällen war den Anführern der Tschetschenen letztendlich ein unbeschadeter Rückzug gelungen. Nachdem jetzt nicht südrussische Kreisstädte, sondern die Zehnmillionen-Metropole Moskau selbst Opfer eines Angriffs geworden ist, forderten einzelne Duma-Politiker bereits, über ganz Russland den Ausnahmezustand auszurufen. Auch Sergej Mironow, Chef des russischen Oberhauses, schloss eine solche Entwicklung nicht mehr aus.
Kurz nach der Geiselnahme waren mehrere Kinder und einige Zuschauer muslimischen Glaubens freigekommen. Eine zunächst von den Geiselnehmern für den Donnerstagmorgen versprochene Freilassung aller ausländischen Gefangenen war im Verlauf des Tages gescheitert. Auch mindestens drei Deutsche und zwei Österreicherinnen befinden sich im Theatersaal. Am Vormittag warteten Diplomaten und russische Politiker stundenlang vor dem verminten Gebäude darauf, mit den Terroristen Verhandlungen aufnehmen zu können. Gespräche der Duma-Politikerin Irina Chakamada und des Schlagersängers Iossif Kobson mit den Terroristen verliefen erfolglos. Nachdem die Vorräte des Theatercafés aufgebracht waren, lehnten die Geiselnehmer sogar weitere Lebensmittellieferungen an die Geiseln ab.
Auch der russische Exparlamentschef Ruslan Chasbulatow, selbst ein Tschetschene, hatte mit seinem Angebot, den Rebellen nach einer Freilassung aller Geiseln freies Geleit zu gewähren, kein Gehör bei den Terroristen finden können. Er mahnte, die Geiselnahme sei eine fatale Folge der russischen Tschetschenien-Politik und der Weigerung des Kreml, Verhandlungen mit dem Rebellenpräsidenten Aslan Maschadow aufzunehmen.
Doch Verhandlungen mit den Freischärlern im Kaukasus sind seit dem Mittwochabend in weite Ferne gerückt. Die letzten ernsthaften offiziellen Kontakte mit Mittelsmännern Maschadows liegen bereits knapp ein Jahr zurück. Ein Treffen des Maschadow-Emissärs Achmed Sakajew und Putins Generalgouverneur für Südrussland, Viktor Kasanzew, auf dem Moskauer Flughafen, endeten damals ergebnislos. Moskau besteht darauf, dass es Gespräche mit den Kampfgruppen nur über deren Aufgabe und die Abgabe ihrer Waffen, keineswegs aber, wie von Maschadow gefordert, über die politische Zukunft Tschetscheniens geben dürfe. Nichts deutet darauf hin, dass sich die Haltung des Kreml nach dem Geiseldrama ändern könnte.
Präsident Putin hatte bereits in der Nacht eine geplantes Treffen mit Bundeskanzler Schröder in Berlin und eine Reise nach Portugal abgesagt und kontrollierte von seinem Arbeitszimmer im Kreml aus die Arbeit der Sicherheitskräfte. Der Überfall sei im Ausland geplant worden, erklärte Putin am Nachmittag in einer ersten öffentlichen Stellungnahme. Die Terrorakte in Indonesien, auf den Philippinen und jetzt in Moskau seien Glieder einer Kette. Der Krisenstab in Moskau bestätigte, es seien mehrere Telefongespräche der Terroristen mit ihren Unterstützern in den Arabischen Emiraten und der Türkei abgefangen worden.
Die Geiseln übernahmen unterdessen aus einsichtigen Gründen die politischen Forderungen ihrer Geiselnehmer. „Wir bitten Sie, den Krieg zu beenden“, verlas eine frei gelassene Frau aus einer Botschaft der Geiseln an Präsident Putin. Denn: „Andernfalls wird zu viel Blut fließen.“
Bereits in der ersten Nacht des Geiseldramas hatten viele Schaulustige vor dem Theater dagegen gefordert, das Gebäude zu stürmen und kurzen Prozess mit den tschetschenischen Kämpfern zu machen. Die Behörden fürchten bereits mögliche Kaukasierpogrome in der russischen Hauptstadt und riefen die Bürger zur Besonnenheit auf. Vertreter der tschetschenischen Diaspora erklärten ihre uneingeschränkte Solidarität mit den Opfern der Geiselnahme. Sie seien dazu bereit, sich gegen die Geiseln austauschen zu lassen oder aber die Gefangenen im Fall eines Sturms selbst mit der Waffe in der Hand freizukämpfen.
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