: „Die Verblödung fängt mit der Geburt an“
Interview mit der Neurobiologin Prof. Anna-Katharina Braun, Institutsleiterin an der Uni Magdeburg, über die Bedeutung der Erkenntnisse der Gehirnforschung für das Lernen von Kindern in Krabbelgruppe, Kita und Schule: „Wichtig ist also die Weichenstellung in der frühen Erziehung“
taz: Die schulpolitische Diskussion nach dem Pisa-Schock konzentriert sich auf die Frage, wie Ungleichheiten des sozialen familiären Hintergrundes in der Phase der Sekundarstufe 1, also in den Altersgruppen zwischen 10 und 16 Jahren, ausgeglichen werden können ...
Prof. Anna-Katharina Braun: In dem Alter ist es eigentlich zu spät, Defizite, die aus dem Elternhaus kommen, noch auszugleichen. Wenn gerade solche frühen Defizite, beispielsweise sprachliche Fertigkeiten oder auch Neugier- und Explorationsverhalten, nicht spätestens in der Phase der Vorschulerziehung ausgeglichen worden sind, dann wird es später nur noch schwer gelingen. Mit elf Jahren ist das Gehirn zwar immer noch nicht völlig ausgereift, aber der Entwicklungsprozess ist sehr weit fortgeschritten. Nicht nur das Lernen, sondern eben auch die „Verblödung“ fangen sofort nach der Geburt an.
Was heißt „Verblödung“?
Man muss davon ausgehen, dass die Geburt der Zeitpunkt ist, an dem ich beginne zu lernen – oder eben nicht, wenn das Gehirn nicht gefordert wird. Langeweile ist für die Ausbildung des Gehirns in den frühen Kindheitsjahren sehr schädlich.
Das spricht für die breite Förderung von Krabbelgruppen?
Auf jeden Fall. Und zwar mit einer professionellen Betreuung, mit Erziehern, die eine adäquate Ausbildung und Bezahlung erhalten, denn sie haben es in der Hand, die Grundmauern für späteres Lernen zu legen. Um dieser großen Verantwortung fundiert gerecht zu werden, sollte man in der Vorschulerziehung zumindest eine (Fach-)Hochschul-Ausbildung fordern. Die Erzieherinnen in Deutschland sind, gemessen an ihrer wichtigen Funktion, einfach zu schlecht bezahlt, und sie haben paradoxerweise einen vergleichsweise niedrigen Sozialstatus. Dies ist auch sicherlich mit ein Grund dafür, dass fast nur Frauen diesen Beruf erlernen, und eine solch unausgewogene Erziehung ist sicherlich nicht gut für die Kinder. Das ist in anderen Ländern, auch in Finnland übrigens, anders. Die ersten Lebensjahre sind für Erziehung und Bildung eine ganz entscheidende Phase, da in diesem Zeitraum massive Entwicklungsprozesse im Gehirn stattfinden, insbesondere in den Zentren, die für Lernen und Gedächtnisbildung und auch für soziales und emotionales Verhalten eine zentrale Rolle spielen.
Bei uns werden die Lehrer für die Sekundarstufe II bestens ausgebildet, weniger vielleicht pädagogisch, aber immerhin fachlich. Doch wenn die Kinder diese Ausbildungsstufe erreicht haben, sind viele Weichen bereits gestellt. Im Prinzip sollte auch die erste Fremdsprache schon dann gelernt werden, wenn die Sprachzentren im Gehirn besonders aufnahmefähig sind. Wir wissen doch von Kindern zweisprachiger Eltern, wie leicht die neben der Mutter- auch die Vatersprache erlernen.
Würde das Kindern in diesem Alter auch Spaß machen?
Ein Kind ist von Natur aus wissensdurstig. Das Gehirn eines Kindes ist wie ein kleiner Schwamm, der alles gierig aufsaugt, und es kann daher gar nicht überfordert werden – es kann höchstens entmutigt, demoralisiert und dadurch zur Lethargie degradiert werden, zum Beispiel durch Drill. Das Zuschaufeln der Gehirne mit Detailwissen, das nicht zu Wissens- und Denkkonzepten verarbeitet wird, bringt „Auswendiglerner“, aber keine kreativen Köpfe hervor! Lernen muss im Kindergarten genauso wie in der Schule Spaß machen, Neugier wecken, Erfolgserlebnisse vermitteln.
Das ist Ihr wissenschaftliches Spezialgebiet: Wie wirkt sich emotionale Zuneigung auf die Gehirnentwicklung aus?
Wenn einem Säugling nicht genügend Aufmerksamkeit zuteil wird, wenn zu wenig Umweltreize auf ihn einwirken, dann kann sich das Gehirn nicht entfalten. Man muss von Anfang an adäquate Anreize schaffen – in emotionaler Form und intellektuell, wobei das Intellektuelle in der ersten Lebensphase nicht so dominant sein muss. Beides muss aber gekoppelt werden, denn Lernen funktioniert bei Drei- oder Siebenjährigen und auch beim Erwachsenen nur dann optimal, wenn intellektuelle Inhalte mit Emotionen verknüpft werden. Neutrales Lernen gibt es gehirnphysiologisch wahrscheinlich überhaupt nicht. Vereinfacht gesagt: Das Gehirn merkt sich nur Dinge, für die man bestraft oder belohnt worden ist: Wir lernen am besten durch Erfolg und auch durch Misserfolg.
In Bremen wird kritisiert, dass auf eine Erzieherin 20 Kita-Kinder kommen.
Jedes Kind ist ein Individuum, dessen Gehirn individuell angeregt werden will. Wie kann eine Erzieherin das gewährleisten, wenn sie 20 verschiedene Kinder vor sich hat?
Seit den großen Erfolgen der Gehirnforschung ist die Diskussion darüber, wie viele der Chancen genetisch bedingt sind, in den Hintergrund getreten.
Die genetische Ausstattung und die Umwelt wurden im Verlauf der Hirnentwicklung untrennbar miteinander verknüpft. Das genetische Potential ist in den Zellen eines jeden Menschen festgelegt, dieses Potential muss aber erst einmal aktiviert werden. Das genetische Potential definiert sicherlich Grenzen der Kapazitäten, aber die werden doch oft gar nicht ausgeschöpft, wenn die Kinder nicht richtig gefördert werden. Man kann viel vorhandenes Potential verkümmern lassen, insbesondere in den ersten Lebensjahren. Ähnlich wie ein Muskel, der verkümmert, wenn er nicht genügend trainiert wird, benötigt auch das Gehirn für seine optimale Entwicklung Stimulation, Reize, eine Herausforderung und dann emotionale Erfolgserlebnisse. Wenn das Kind eine schwierige Aufgabe gelöst hat, spürt es dieses unglaubliche Gefühl: Ich habe eine Aufgabe oder ein Problem gelöst. Dabei werden natürlich auch emotionale Komponenten gefördert und stabilisiert, das Selbstbewusstsein, Ehrgeiz, Leistungswillen et cetera. Bei solchen Erfolgserlebnissen werden chemische Substanzen im Gehirn, zum Beispiel Dopamin oder Opiate ausgeschüttet, das Gehirn „belohnt“ sich quasi selbst für seine erbrachte Leistung. Dadurch werden die Schaltkreise besonders gestärkt, die für das Lernen und für die emotionale Welt essentiell sind, das heißt, die Erfolgserlebnisse verstärken und beschleunigen das Lernen.
Wenn sich ein Schüler immer wieder als Schlusslicht in einer Lerngruppe erfährt, hemmt das die Entwicklung des Gehirns?
Beim Lernen sollten Kinder durchaus auch gefordert werden, wobei man es besser „Herausfordern“ nennen sollte. Man darf die Herausforderung nicht übertreiben, sondern muss sie individuell an das Kind anpassen. Wenn jemand in der Schule systematisch Misserfolge und Negativ-Erlebnisse erfährt, dann passt sich auf Dauer sein Gehirn an.
Kein Opium?
Vielleicht zu wenig, oder es werden Stresshormone ausgeschüttet. Stresshormone zerstören Nervenzellen und ihre synaptischen Verbindungen, und diese hirnbiologischen Prozesse wirken sich längerfristig sicherlich auch auf das Verhalten und die Lernleistungen aus. Geschieht dies während der frühen Hirnentwicklung, können solche Defizite sehr dauerhaft „eingeprägt“ werden und sind dadurch später nur noch schwer korrigierbar. Wichtig ist die Weichenstellung in der frühen Erziehung.
Fragen: Klaus Wolschner
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