hörhilfe
: Ulrich Tukur liest Ödön von Horváths „36 Stunden“

Die kapitalistische Henne

Bislang hat Agnes Pollinger aus der Oberpfalz das Pech verfolgt. Ihre Eltern sind früh gestorben, mehrmals ist sie gefeuert worden, jetzt wohnt sie in München bei der Tante, achtzehnjährig und arbeitslos. Allerdings hat das Pech Agnes Pollinger weder ihrer aufstiegsorientierten Träume beraubt noch der Bereitschaft, sich ihnen praktisch an die Fersen zu heften – und schon gar nicht der Tatsache, dass sie „gut gebaut“ ist.

Als sie dem langzeitarbeitslosen Frauenvernascher Eugen Reithofer begegnet, scheint sich zwar eine Liebesgeschichte anzubahnen. Doch ohne weitere Sentimentalitätseinbrüche versetzt Agnes Eugen schon am nächsten Tag zugunsten des Eishockeystars und Playboys Harry Briegler, dem sie beim Nacktmodeln begegnet ist. Briegler packt Agnes in seinen Sportwagen und fährt mit ihr an den Starnberger See, führt sie schick aus und kassiert nachts auf einem Feldweg den fälligen Sex: ein Deal, mit dem Agnes so vollkommen sachlich übereinstimmt, dass sie Harry Briegler doch auf beleidigende Weise unkonzentriert erscheint. Sieben Stunden Fußweg vor München schmeißt er sie aus dem Wagen und braust davon.

Um Ödön von Horváths Prosaarbeit „36 Stunden“ aus der Weimarer in die Berliner Republik zu transferieren, braucht man nur ein paar Zahlen und kolorierende Details wegzulassen oder ein paar einschlägige Begriffe hinzuzufügen: Dann verfügt Agnes Pollinger über einen Eins-a-Luder-Appeal, ist das Atelier vom akademischen Kunstmaler A. L. M. eine ins pornografische Gewerbe lappende Agentur und Harry Briegler eine Promenadenmischung aus Becker und Bohlen.

Wie auch in seinen „Volksstücke“ genannten Dramen skizziert Horváth mit ironischer Distanz, doch ohne Häme oder missionarischen Eifer kleinbürgerliche Mentalitäten und Verliererschicksale, die bis tief in die Gefühlshaushalte vom Zwischenkriegskapitalismus durchdrungen sind. So konstatiert Agnes – aufgefordert, doch auch mal an sich selbst zu denken –, dass sie zwar eigentlich immer an sich selbst denke, „aber wahrscheinlich zu langsam“. Die interessante Frage, ob erst kapitalistische Henne oder egoistisches Ei, lässt der österreich-ungarische Beziehungsanalytiker schon aus Liebe zur Ambivalenz des Abgrunds offen.

Dies ließe sich eigentlich auch gut gedruckt nachlesen. Doch im Fall der „36 Stunden“ wäre es jammerschade, auf das sensationelle Rhythmusempfinden des Schauspielers Ulrich Tukur zu verzichten, der aus dem Text ganz beiläufig dramatische Qualitäten herauskitzelt. Tukur braucht keine stimmliche Verstellung, sondern nur minimale melodiöse Verschiebungen, um in den zwar nicht gleich-, aber doch verflucht ähnlich geschalteten Figuren das Individuelle freizulegen, um Dialoge szenisch zuzuspitzen, ohne sie dadurch aus dem Prosafluss zu reißen oder von der gelassenen Ironie des allwissenden Erzählers abzuweichen. Gleichzeitig installiert er ein südliches Ambiente zwischen Schmäh und Schwabing, das weder über dialektale Färbungen noch über Horváths exzessiven Konjunktivgebrauch ins Straucheln gerät.

Auch der Österreicher Reithofer strauchelt nicht, obwohl er beinahe eine Stunde vergeblich an der Ecke Schleißheimer Straße wartet und wenig Schmeichelhaftes ahnt. Für ihn ist Agnes zwar kein Luder, aber durchaus als „Mistvieh“ abgehakt. Trauer und Selbstzweifel sind seine Sache nicht. Doch spät in der Kneipe, als er zufällig von einer freien Schneiderinnenstelle erfährt, sickert parallel zum Bier die Einsicht in sein Bewusstsein, dass nicht nur alle anderen Mistviecher sind, sondern auch er selbst, was nicht ausschließen muss, dass die Mistviecher einander hin und wieder helfen könnten – mit der angenehmen Konsequenz, dass sich das helfende Mistvieh ein schönes Selbstzeugnis ausstellen könnte.

„Es gibt nämlich auch etwas ohne das Verliebtsein“, wienert er frühmorgens sanft der übermüdet heimkehrenden Agnes entgegen, die nicht glauben will, dass der Versetzte ihr auch noch einen Job beschafft. Und wir wollen mal nicht glauben, dass dieses Etwas nichts weiter ist als das alternative Verliebtsein in sich selbst. EVA BEHRENDT

Ödön von Horváth: „36 Stunden. Die Geschichte vom Fräulein Pollinger“. Gelesen von Ulrich Tukur. 2 CDs, Tacheles/Roof Music, Bochum 2002, 118 Minuten, 22,90 €