: Start mit Schönheitsfehlern
Seit gestern können Bahnfahrer ihre Tickets nach dem neuen Tarifsystem kaufen. Damit soll alles billiger werden, heißt es. Doch zunächst ist nur die Verwirrung groß – auf beiden Seiten des Schalters
von HANNO CHARISIUS und JÜRGEN SCHULZ
Die Bahnmitarbeiterin im Reisezentrum Zoo ist sichtlich entnervt. Auf Fragen nach dem großen Run auf Tickets des neuen Preissystems der Deutschen Bahn will sie gar nicht erst antworten. „Heute geht es schon etwas heftiger zu als sonst“, räumt eine andere vorsichtig ein. Einsam am Eingang steht ein blitzblank neues Infoterminal und will über das neue Preissystem Auskunft geben. Nur gefragt hat es bislang keiner.
Sechs Wochen vor dem eigentlichen Start des neue Bahntarifsystems konnten gestern die ersten Tickets gebucht werden. Seit Monaten hatte die Bahn ihre bundesweit 44.000 Mitarbeiter geschult und rechnete für die Weihnachtstage mit Vorausbuchungen für die „Plan&Spar“-Angebote. Denn die Billigtickets sind begrenzt – je nach Auslastung der Strecke gibt es 10 bis 60 Prozent der Sitzplätze günstiger.
Die Verkaufspremiere verlief mit Tücken. Der Hauptrechner war der Datenlast von 22 Millionen Verbindungen im Gesamtnetz nicht gewachsen. Am Morgen fiel er für eine halbe Stunde aus. Reisebüros in der Stadt waren noch länger vom Buchungssystem der Bahn abgeschnitten.
Für Helmut Lutz begann der Tag mit Chaos. Er hatte am gestrigen Morgen schon 15 Bestellungen für Fahrkarten auf seinem Schreibtisch im Schöneberger Reisebüro „Kopfbahnhof“ liegen. Seit gestern kann er für seine Kunden auch Tickets nach dem neuen Tarifsystem buchen. Als Lutz den Computer mit dem neuen Reservierungssystem startete, ging nichts mehr. „Die Leitung zum Server der Bahn brach immer wieder zusammen“, klagt er. Zwei Stunden lang war keine Reservierung oder Informationsabfrage möglich.
Gegen elf dann stand die Leitung, und Lutz konnte das Programm zum ersten Mal benutzen. „Das ist ein komplett neues Buchungssystem. Wir konnten es vorher nicht ausprobieren.“ Von Seiten der Bahn gab es vorher eine „theoretische Schulung“ an einer Übungs-CD-ROM. Die Ticketverkäufer an den Bahnschaltern hatten da mehr Zeit.
Und Lutz sieht einige Kunden ziemlich schnell den Anschluss verpassen: „Am Anfang werden alle mit Billigtickets zufrieden gestellt“, vermutet er. „Danach wird es spannend.“ In der Weihnachtszeit, wenn viele Leute in den Zug steigen, die sonst Auto fahren, werde die Bahn ihre Billigkontingente vermutlich nicht aufstocken: Gerade zu verkehrsstarken Zeiten wie Freitagnachmittag oder Sonntagabend werde die Bahn eisern an der 10-Prozent-Regel für die billigsten Sitzplätze festhalten. Dem stimmt Bahnsprecher Achim Stauß zu. Eine Aufstockung der „Plan & Spar“-Kontingente, zu buchen spätestens sieben Tage vor Reiseantritt, schließt er für die Vorweihnachtszeit aus: „Das wäre unwirtschaftlich.“
Bahnreisefachmann Lutz findet die Kontingentregelung insgesamt undurchsichtig. „Fest steht nur, dass 10 Prozent der Fahrplätze an Frühbucher vergeben werden“, sagt er. Außerdem führe das System zu einigen Kuriositäten: So könne es sich laut Lutz lohnen, „weiter zu buchen und früher auszusteigen“. Im Klartext: Wenn es für die Strecke Berlin–Frankfurt keine verbilligten Frühbuchertickets mehr gibt, könnte es günstiger sein, ein Billigticket nach Heidelberg zu lösen, als den Normaltarif nach Frankfurt zu bezahlen.
Am Bahnhof Zoo ist die Meinung der Kunden zum neuen Preissystem geteilt. „Ich kaufe erneut eine alte Bahncard und fahre weiter zum halben Preis. Bei mir sind Spontaneität und Flexibilität wichtig“, meint einer. Ein älteres Pärchen will aus Kostengründen auf die Billigflieger umsteigen. Andere versuchen sich bereits an zwei Automaten, an denen nach neuem Preissystem gebucht werden kann: „Am Schalter dauert es mir oft zu lange. Aber mit dem neuen System ist das auch noch umständlich“, sagt ein junger Mann.
Das scheint keine Frage des Alters zu sein: Eine ältere Dame, so meldete die Deutsche Presse-Agentur, war im Reisezentrum am Zoo völlig überfordert. Mit Tränen in den Augen klagte sie der Bahn-Mitarbeiterin am Schalter ihr Leid. „Das ist alles so kompliziert. und ich fühle mich so ungerecht behandelt.“ Immerhin: Einige Fahrplanprospekte hatte sie schon.
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