: Bitte, bitte niemanden überfordern
Ein Koffer spricht und Udo spielt Udo: Die Lindenberg-Show „Atlantic Affairs“ kommt als Film unter dem Titel „Sterne, die nie untergehen“ ins Fernsehen – und soll am Sonntagnachmittag auch junge Zuschauer mit ins Boot holen (So., 15.05 Uhr, ARD)
aus Bremen KLAUS IRLER
Für die Techniker des Bremerhavener Stadttheaters war’s ein Fest, als Udo Lindenberg Ende April seine Lkws vor dem Bühneneingang parkte und anfing, vor dem kleinen Dreispartenhaus auszuladen. Lindenberg und seine Leute installierten eine Rockshow und schenkten Bremerhaven die Weltpremiere der Revue „Atlantic Affairs“. Gleichzeitig wurde an diesem Abend die Schlusssequenz des Films „Sterne, die nie untergehen“ gedreht. Thema: Künstler, die vor den Nazis nach Amerika fliehen mussten.
Udo spielt Udo in einer Geschichte, die seit der Nostalgie-LP „Hermine“ ganz Udo ist: Als abgebrannter Rocker fährt er nach New York, um dort die Erbschaft von zwanzig Koffern anzutreten. Für die Rückfahrt schifft er sich auf der „Queen Elizabeth 2“ ein, packt die Koffer aus und entdeckt das Notenmaterial von emigrierten Musikern wie Kurt Weill, Friedrich Hollaender und Werner Richard Heymann. Mit der Bordband studiert er die Songs ein, macht aus ihnen zeitgemäßen Mainstream und legt zuletzt in Bremerhaven an – dort, wo für tausende Emigranten die Flucht aus Deutschland losging. Und Udo hat die Songs nicht nur zurückgeholt – er bringt sie auch sofort auf die Bühne des Bremerhavener Stadttheaters. – Ende der Handlung.
Es folgt ein Mitschnitt der Bühnenshow – langweilige 30 Minuten, trotz Staraufgebots: Die Prinzen spülen „Irgendwo auf der Welt“ a-capella-weich, Nathalie Dorra steuert die Soulstimme bei und Ellen ten Damme gibt das Raubtier zu „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre“. Allein Tim Fischer durchbricht den Unterhaltungsmainstream mit „Ein Koffer spricht“.
Viel interessanter aber ist, wie Regisseur Nils Willbrandt in den 60 Minuten davor versucht, Anspruch und Entertainment unter den einen Hut von Udo Lindenberg zu kriegen. Der Film ist Rückblende: Udo und sein Manager erzählen von der Entstehung ihrer Show. In die Handlung auf der „QE 2“ baut Willbrandt Filmausschnitte aus den 30er- und 40er-Jahren ein, Aufnahmen von Friedrich Hollaender aus den 1970ern und Interviews mit den Kindern, Enkeln und Mitarbeitern der Emigranten.
So gewinnt die Fahrt des Ozeandampfers an Tiefgang: Der Enkel von Ernst Toch berichtet, wie schwer sich der Avantgardekomponist tat, in Hollywoods Studios auf einmal als Filmmusikspezialist für Horrorfilme gehandelt zu werden. Marlene Dietrichs Enkel meint, die „Dragqueens und Travestiekünstler im Berlin der 20er-Jahre“ hätten seiner Großmutter beigebracht, wie sich eine Diva verkauft. Willbrandt hat in den Dokumentarteilen engagierte Interviews geführt und mit den Hollaender-Aufnahmen Perlen zu Tage gefördert. Allerdings muss alles immer ganz schnell gehen: Die Anspruchsequenzen rauschen vorbei, wollen bei der Infotainment-Unternehmung bitte, bitte niemanden überfordern. Der ständige Wechsel nervt: Gerade hat man angefangen, sich für die Schicksale der Emigranten zu interessieren, da springt Udo wieder ins Bild und doktert an seiner Show herum. Dabei überzeichnet er sich selbst – ein ehrbarer Versuch im Fach Selbstironie.
Letztlich aber entsteht eine Figur, die vor allem die Zuschauer unter zwölf Jahren ansprechen wird. Denn die sollen am Sonntag mit vor dem Fernseher sitzen: Die „ganze Familie“ möchte Radio-Bremen-Intendant Heinz Glässgen erreichen, genauso wie Tourneeveranstalter Hermjo Klein vorhat, ab Februar 2004 die ganze Welt mit der Bühnenshow zu beglücken.
In Schanghai wird verhandelt, St. Petersburg, Marseille sind im Gespräch, das Hamburger Thalia-Theater ist schon gebucht. Auch nach Bremerhaven soll die Show zurückkehren, jedenfalls erwartet das das Bremerhavener Stadtmarketing, nachdem es über 200.000 Euro für das Projekt lockergemacht hat. Da heißt es hoffen.
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