: Verwahrung statt Förderung
Die Kürzungen im Jugend- und Behindertenbereich stellen die Existenz und den Sinn vieler Projekte in Frage. Schon jetzt werden Fördermöglichkeiten aus Kostengründen nicht mehr ausgeschöpft
von JÜRGEN SCHULZ
Ganz langsam zerreißt Karina Zeitungen für Pappmachékügelchen. Sie sitzt im Rollstuhl. So wie Martin, der an einem anderen Tisch versucht, Kleister zur Zeitung zu geben. Ein Betreuer muss sie ständig unterstützen, allein geht das nicht. Martin und Karina sind schwerbehindert. In den Mosaik-Werkstätten für Behinderte in Reinickendorf werden sie gefördert – in ganz kleinen Schritten, täglich von 9 bis 15 Uhr. 1.200 Menschen in ganz Berlin erhalten diese Hilfe, 20 in Reinickendorf.
Thomas Franke betreut den Förderbereich in vier Mosaik-Werkstätten: „Ziel ist es, auf eine Werkstattarbeit vorzubereiten. Das ist aber nur in den seltensten Fällen möglich.“ Hauptsächlich gehe es darum, durch Übungen vom Anziehtraining bis zum gemeinsamen Essen einen geregelten und fördernden Tagesablauf zu ermöglichen. Aggressives Verhalten etwa könne dadurch stark gemildert werden.
Das alles sei nun aber in Gefahr: durch die vom Senat geplanten Kürzungen im Jugend- und Behindertenbereich. Um deren Auswirkungen zu veranschaulichen, hat die Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege (Liga) zu einer „Erlebnisbustour“ geladen.
Denn die Zahlen in den Haushaltsansätzen bleiben abstrakt. 73 Millionen Euro bis zum Jahr 2004 werden im Bereich der Hilfen für Behinderte gestrichen, 83 Millionen bei der Jugend- und Erziehungshilfe. Bei der Behindertenhilfe würden die Leistungen des Senats bis 2004 damit um fast ein Fünftel unter dem Niveau von 2001 liegen, erklärt Liga-Sprecherin Elfie Witten.
Gerade für die Schwerbehinderten könnten die Auswirkungen gravierend sein. Der Senat plant unter anderem die Kürzung der Pauschalen, die der Bezirk für die Fördergruppen an die freien Wohlfahrtsverbände zahlt: „15 Prozent weniger werden den Mosaik-Werkstätten künftig zur Verfügung stehen. 20 Stellen müssten sofort gestrichen werden“, hat Frank Schneider ausgerechnet. Er ist Bereichsleiter für Bildung und Förderung. Thomas Franke ergänzt: „Wir können eine Betreuung dann zum Teil gar nicht mehr verantworten. Alle, die mehr Hilfe brauchen, fallen durch.“ Also auch alle, die Einzelbetreuung brauchen.
„Diese Menschen müssten dann zu Hause oder in ihren Heimplätzen bleiben“, sagt Franke. „Das ist Verwahrung statt Förderung.“ Zwar besteht auf „tagesstrukturierende Maßnahmen“ ein Rechtsanspruch. „Das kann aber auch dreimal Essen pro Tag heißen“, meint Franke. Der Rückfall in ständig gleiche Verhaltensmuster oder auch Selbstverletzungen können die Folge sein, die Einlieferung in Psychiatrien oder Krankenhäuser. Das wäre ein großer Rückschritt und würde zudem teurer. Viele Behinderte kamen gerade durch die Fördergruppen aus der stationären Behandlung heraus; mit der Enthospitalisierung war Berlin ein progressiver Umgang mit Behinderten gelungen.
Auch in der Ausbildungsstätte Wedding ist die Situation zugespitzt. „Kürzungen hätten in letzter Konsequenz die Schließung zur Folge“, sagt Regine Strelow, Leiterin der Einrichtung des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks in den ehemaligen Osram-Werken. Hier stehen Ausbildungsplätze für Jugendliche auf dem Spiel, die durch Aufenthalte in Heimen, Schulabbruch oder Vorstrafen weniger Chancen haben und Unterstützung bei ihren persönlichen Schwierigkeiten brauchen. Deshalb wird die Ausbildung von Sozialpädagogen und Lehrern begleitet.
Der 20-jährige Michael musste wegen Körperverletzung vor Gericht. „Ich habe mich mehrfach beworben, aber keinen Ausbildungsplatz bekommen. Das lag sicher an meinen Vorstrafen.“ Jetzt steht er vor einem kirchenfensterähnlichen Bleiglasbild und ersetzt sorgsam einzelne Teile. Das gehört zu seiner Glaserlehre in den Osram-Höfen. Das Jugendamt hatte Michael zu der Lehrstelle geraten, jetzt ist er im dritten Lehrjahr. Die Jobchancen mit Gesellenbrief sind gut, meint Michael. Viele würden auf dem Bau landen und Industriefenster montieren.
„Von den 1.300 Berliner Ausbildungsplätzen in der Jugendberufshilfe sind derzeit allerdings nur 850 bis 900 besetzt“, sagt Eberhard Möller, Ausbildungsleiter beim Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk. Bedarf gebe es zwar genug. „Doch die Bezirke vergeben die Stellen nicht, weil sie sparen“, weiß Möller. „Dabei ist unsere Ausbildung die letzte Möglichkeit, die Jugendlichen zu erreichen, bevor sie ins gesellschaftliche Abseits abgleiten.“
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