„Wir sind noch nicht globalisiert genug“

Zum Antiamerikanismus reicht ein Affekt, aber das System fordert man damit nicht heraus. Michael Hardt, Koautor des Politbestsellers „Empire“, übers Europäische Sozialforum in Florenz, über kluge und blöde Globalisierungskritik und das Schwierige der Revolte gegen eine Macht, die nicht verortbar ist

Interview ROBERT MISIK

taz: Diese Woche findet das Europäische Sozialforum in Florenz statt. Nach dem letzten Weltsozialforum in Porto Alegre haben Sie „die große Neuartigkeit“ dieser Bewegung gefeiert. Was ist denn das Tolle daran?

Michael Hardt: Ich möchte das aus einer US-Perspektive beantworten – ohne dass das für andere Kulturen unbedingt weniger gelten muss. Frühere Generationen hatten zwei Modelle des politischen Organisierens. Das eine, das Einheitsmodell, bekundete, dass die diversen Identitäten, Zugänge, Interessen vereinheitlicht werden müssen. Dies war prägend für die klassischen Parteienstrukturen. Als Antwort darauf entstand ein Alternativmodell, das Differenzmodell, das – beispielsweise von feministischen Gruppen – dagegengestellt wurde.

Was wir seit Seattle 1999 erleben, ist ein Aktivismus, der den Antagonismus dieser beiden Modelle überwindet. Milieus, von denen wir dachten, sie seien unvereinbar – traditionelle Gewerkschaften, Anarchisten, Ökos, Kirchengruppen, was auch immer –, sind fähig, zusammenzuarbeiten, ohne ihre Unterschiede zu leugnen. Das ist das Neue an dieser Netzwerkstruktur. Manchmal wird das „Bewegung von Bewegungen“ genannt. Das ist für mich auch eine Herausforderung für meine theoretische Arbeit.

Das Erstaunliche des Weltsozialforums in Porto Alegre ist, dass hier auch die Gruppen aus den unterentwickelten Ländern repräsentiert sind. Ist das nicht der große Unterschied zu den Post-68-Bewegungen, für die internationale Solidarität eine Phrase war, mit wenig praktischen Auswirkungen?

Natürlich gibt es eine lange Tradition von Internationalismus in verschiedenster Ausprägung. Aber Sie haben Recht: Das Potenzial, das real zu machen, wurde durch die Globalisierung ungeheuer gestärkt.

Ist es nicht eine Regression, dass sich die Protagonisten jetzt wieder in regionale Foren zurückziehen?

Nein, man muss das praktisch sehen. Es ist nicht für jeden möglich, eine Reise in die brasilianische Provinz zu unternehmen. Die regionalen Foren sind ein Magnet für Leute, die ansonsten nur Beobachter blieben. Die regionalen Netzwerke intensivieren sich und vernetzen sich mit den anderen und den globalen Netzwerken.

Sie sind ein Protagonist der globalistischen Strömung in der Bewegung. Und sie kritisieren jene, die auf eine Stärkung nationalstaatlicher Souveränitäten setzen, etwa die französische Führung der Attac-Netzwerke oder jene Linie, die von „Le Monde diplomatique“ vertreten wird. Was kritisieren Sie im Einzelnen?

Ich kritisiere jene, die noch auf nationale Lösungen setzen. Ich meine dabei gar nicht, dass wir Probleme ignorieren sollen, die noch im nationalen Rahmen gelöst werden können. Ich meine auch, dass die Bewegungen durchaus auch die Regierungen ihres Nationalstaates unter Druck setzen sollen, Wohlfahrt, Zugang zu Bildung, zu Rechten zu garantieren.

Aber meine allgemeine Perspektive ist, dass der nationale Kontext keine Lösungen mehr für die Probleme bereithält, vor denen wir stehen. Wir haben viel zu gewinnen von globalen Beziehungen. Innerhalb des globalen Systems, wie es real existiert, gibt es keine Souveränität für den Nationalstaat, beispielsweise auf die Finanzpolitik des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu reagieren. Wie können wir Argentiniens Finanzprobleme lösen? Der Nationalstaat wird das Diktat des IWF nicht durchbrechen können. Dafür braucht es globale Lösungen. Zum Zweiten haben wir grundsätzlich viel voneinander zu lernen, und der Prozess der Globalisierung ist, so gesehen, eine enorme Ermächtigung, eine Stärkung für uns alle.

Skeptiker würden einwerfen, wir haben nicht die Zeit, zu warten, bis sich funktionsfähige transnationale Strukturen entwickelt haben – während ganze Gesellschaften kollabieren.

Das streite ich nicht ab. Natürlich sollen wir nicht warten, bis sich ein globales Gegenmodell entwickelt. Nur ist das kein Widerspruch. Denn wir sollten in unserem regionalen und nationalen Kontext so agieren, dass dies als Beitrag zur Entstehung einer globalen Alternative wirkt. Wenn unser Opponent global ist, dann ist doch logisch, dass wir noch globalisierter sein müssen. Es gibt nicht zu viel, es gibt zu wenig Globalisierung.

Es ist diese These vor allem, die Ihrem Buch „Empire“ eine beinahe emphatische Aufnahme auch in Kreisen einbrachte, die nicht einfach der radikalen Linken zugerechnet werden können. Hat Sie das überrascht?

Ja, in zweifacher Hinsicht: Die unfassbar breite Rezeption hat mich ebenso überrascht wie die im Allgemeinen recht positive Aufnahme. Schließlich haben wir ein langes, schwieriges Buch geschrieben und noch dazu ein kommunistisches Buch. Das ist ja traditionellerweise nicht gerade eine weit akzeptierte politische Haltung. Offenbar ist das auch ein Hinweis darauf, dass der Kalte Krieg vorbei ist und dass man so etwas nicht mehr aus politischen Gründen kalt ignoriert.

Wir hatten erwartet, dass das ein heftig kritisiertes Buch wird. Wenn man ein Buch schreibt, das einen neuen theoretischen Rahmen vorschlägt und diesen intensiv durchargumentiert, dann gibt es immer auch viele – und gute – Gründe, daran Kritik zu formulieren.

Warum ist „Empire“ eigentlich so ein optimistisches Buch? Wenn es vis-a-vis der neuen globalen Ordnung kein Außen, kein Anderes mehr gibt, dann ist es doch auch schwer, Alternativen zu formulieren.

Das Empire, wie wir es verstehen, ist eben kein totalitäres Arrangement. Wenn es kein Außen mehr gibt, dann heißt das noch lange nicht, dass es keinen Platz für Differenz gibt. Das ist übrigens keine ganz neue Perspektive. Für die traditionellen Kommunisten war das Proletariat das soziale Subjekt, das die Alternative zum Kapitalismus bilden sollte. Nur: Dieses Proletariat ist vom Kapitalismus erzeugt, es wäre undenkbar ohne Kapitalismus. Es war insofern eine innere, auch keine äußere Alternative. Der gegenwärtige Prozess der Globalisierung ist auch – jedenfalls in letzter Instanz – von globalen Kapitalprozessen bestimmt, das bedeutet aber auch, dass er die Möglichkeiten für Alternativen selbst produziert.

Die traditionellen Kommunisten hatten die Idee des „großen Augenblicks“ – sie nannten ihn „Revolution“. Gibt es eine Vorstellung von einem solchen historischen Moment in Ihrem Konzept auch noch?

Nicht in dem Sinn eines Sturms auf das Winterpalais, also auf die Kommandohöhen der Macht. Einer der Punkte, die wir machen, ist ja, dass es kein Zentrum der Macht in diesem Rahmen mehr gibt. Das gegenwärtige globale System ist auch keineswegs von einem mächtigen Nationalstaat diktiert, etwa der Supermacht USA. Es wird bestimmt durch ein Setting differenter Mächte und Prozesse. Dazu gehören supranationale Organisationen, auch Nationalstaaten, auch transnationale Unternehmen. Es gibt kein Zentrum der Macht, das man stürmen könnte. Sollen wir das Weiße Haus stürmen oder die Wall Street? Das wäre absurd. Wir müssen politische Praktiken entwickeln, die nicht von der Vorstellung von Machtzentren infiziert sind.

Wie soll man sich das vorstellen?

Wir müssen lebendige Alternativen innerhalb unserer Gesellschaften aufbauen.

Das klingt nicht sehr revolutionär, sondern eher nach einer langsamen, gemächlichen Transformation.

Klar. Nur kann es in diesem Prozess schon auch dramatische Augenblicke geben. Aber er wird dezentriert und disparat sein.

Der deutsche Soziologe Ulrich Beck wirft Ihnen vor, dass Sie die neue globale Ordnung – die Sie Empire nennen – als „Automaten“ betrachten, der von selbst funktioniert. Die postmoderne Theorie, damit meint er Konzepte wie das Ihre oder jenes des spanischen Soziologen Manuel Castells, verliere aus dem Blick, wer wann und wo entscheide: die Möglichkeiten der Regierungen, die Möglichkeiten der supranationalen Gebilde – etwa der EU –, die Macht der hegemonialen Superpower, der USA. Sind Sie für Macht und Gegenmacht in unserem Zeitalter blind?

Ich nehme diese Kritik eher als Zustimmung. Wir fügen gerade diese Dezentriertheit der Machtstrukturen in unsere Theorie.

Die Pointe dieses Einwandes ist aber eine andere: Bei Ihnen liegt aller Ton auf den Prozessen innerhalb der fluiden Netzwerkstruktur – auf Macht, die gleichzeitig „überall und nirgends“ ist. Wer aber hier Macht hat, ist für Ihre Analyse eine eher zweitrangige Frage.

Ich sehe nicht, inwiefern das eine gerechtfertigte Kritik an unserem Konzept ist. Es gibt institutionalisierte Macht – doch ebenso deren Grenzen. Wenn wir, wie im Internet, einen dieser Machtknoten zerstören würden, würde sich das System kaum verändern. Ein Beispiel: Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass die Welt besser würde, wenn wir den IWF zerstören würden. Wir müssen das System schon auf eine raffiniertere Weise herausfordern.

Ich bin auch ein leidenschaftlicher Gegner aller Antiamerikaner. Und zwar nicht, weil ich meine, dass wir nicht gegen die US- Politik opponieren sollten. Nur sollten wir gegen sie opponieren, insofern sie Teil einer Konstellation ist, gegen die wir opponieren. Ich schlage also eine politische Praxis vor, die schwierig ist. Denn Antiamerikanismus ist einfach, dafür braucht man nur einen Affekt.

Die zweite Kritik ist, dass Ihre Idee einer globalen Gegenmacht durch die Multitude, die „Vielheit“, einem ultralinken Radikalismus Tür und Tor öffnet, weil Sie die Bewegung der Unzufriedenen der Peripherie – innerhalb der westlichen Gesellschaften, aber auch des globalen Systems – überbewerten und Bündnisse mit Reformregierungen, mit Sozialdemokraten, mit Gewerkschaftern ablehnen. Der Vorwurf lautet, dass das im Ergebnis die progressiven Kräfte schwächt.

Das stimmt doch einfach nicht. Das Konzept der Vielheit impliziert gerade, dass eine unbegrenzte Zahl an Kräften zusammenarbeitet. Wie das funktioniert, wird ja nicht nur in unserem Buch beschrieben, sondern durch die Praxis der Bewegung selbst. Die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften funktioniert sehr gut. Und die spannendsten Diskussionen in Porto Alegre waren die mit Vertretern jener Regierungen, die gerade am Krieg in Afghanistan beteiligt waren.

Für Sie sind die Mitte-links-Parteien an der Regierung, also etwa in Deutschland, potenzielle Verbündete und keine Gegner?

Wenn traditionelle politische Kräfte – ob an der Regierung oder nicht – mit uns gemeinsam agieren können, warum nicht? Nur muss ausgeschlossen sein, dass sie die Richtung bestimmen, die die Bewegung nimmt. Und es kann sicher nicht so sein, dass man diese Parteien, wenn man sie als Verbündete betrachtet, nicht mehr kritisieren darf.