piwik no script img

Nachwahl-Honeymoon in der Türkei

Wenige Tage nach dem Sieg der AKP ist die Euphorie in der Türkei ungebrochen. Deren Chef Tayyip Erdogan ist innenpolitisch um einen Ausgleich bemüht und macht sich sofort daran, außenpolitische Altlasten zu entsorgen. Auch das Militär zieht mit

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Bis jetzt“, stellte Mehmet Ali Birand, einer der bekanntesten Kommentatoren der Türkei, gestern fest, „hat Tayyip Erdogan noch keinen Fehler gemacht.“ Drei Tage nach dem Wahlsieg der AK-Partei ist in der Türkei eine regelrechte Euphorie ausgebrochen. Die Börse erreicht Rekordhöhen, die Zinsen fallen und selbst die Lira gewinnt gegenüber dem Euro leicht an Boden. Das Land, meint Birand, erlebt einen regelrechten Honeymoon.

Tatsächlich hat Erdogan in den Tagen seines Triumphs jede Konfrontation vermieden und stattdessen voll auf gesellschaftliche Versöhnung gesetzt. Am Dienstagmorgen traf er sich mit Oppositionsführer Deniz Baykal und verabredete eine gemeinsame, überparteiliche Delegation, die in Brüssel die neue politische Lage erläutern soll. Auch die Befürchtung, es könnte bei der Nominierung eines Kandidaten für den Posten des Ministerpräsidenten zu einer Kraftprobe mit dem Präsidenten kommen, hat die AK-Partei ausgeräumt. In seiner ersten Sitzung nach den Wahlen entschied der Parteivorstand am Dienstagabend, dass Erdogan heute oder morgen dem Staatspräsidenten persönlich mehrere Kandidaten vorschlagen wird, damit man sich gemeinsam auf eine Person einigen könne.

In einem Interview mit Hürriyet hatte Erdogan zuvor erklärt, er wolle einen starken Ministerpräsidenten und keinen „Strohmann“, der nur seine Befehle entgegennehmen würde. Bleibt es dabei, dürfte sein Vize Abdullah Gül, nach Tayyip Erdogan der profilierteste Mann der AK-Partei, die besten Chancen haben.

Selbst das gegenüber der AK-Partei so skeptische Militär hat signalisiert, dass es sich mit den neuen Mehrheiten abgefunden hat. Aus den USA, wo Generalstabschef Hilmi Özkök zwecks Abstimmung über den Irakkrieg gerade einen Besuch absolviert, ließ er die türkische Öffentlichkeit wissen: „Der Sieg der AK-Partei ist das Ergebnis fairer Wahlen, und ich respektiere den Willen des Volkes.“

Doch nicht nur in der Innenpolitik sorgt Tayyip für gute Stimmung. Auch außenpolitisch ging er zielstrebig daran, Altlasten zu entsorgen. Nachdem ihm der griechische Premier Kostas Simitis bereits in der Wahlnacht gratuliert hatte, revanchierte sich Erdogan mit neuen Lösungsvorschlägen für den Zypern-Konflikt. In einem Interview im griechischen Fernsehen sagte er, seine Regierung sei „für das belgische Modell“, also eine starke Föderation mit weitgehenden Rechten für die beiden Teilstaaten, aber einen gemeinsamen Zentralstaat, der gegenüber der EU mit einer Stimme sprechen könnte. Der griechisch-zypriotische Präsident Glafkos Klerides war begeistert und meinte, auf dieser Basis sei eine Lösung kein Problem mehr.

Erdogan wird auf seiner ersten Auslandsreise in der kommenden Woche nach Athen fahren, um sich mit Simitis zu treffen. Die griechische Regierung hat bereits deutlich gemacht, dass sie sich in der EU dafür stark machen wird, dass die Türkei ein Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen genannt bekommt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen