: Rap und Ratschlag
„Es ist monstersinnvoll, was hier gesagt wird“: Bei der Bremer Nacht der Jugend fingert ein aufgedrehter Bürgermeister an Goldketten herum, Kids diskutieren über die Wahrheiten der Weltreligionen. Und: Ein blondierter Soap-Star warnt vor Landminen in Kambodscha
Patrik Fichte musste einiges aushalten. Der inzestgeplagte Graf Henning von Anstetten aus der Endlos-Soap „Verbotene Liebe“ war der Vorzeigepromi schlechthin bei der diesjährigen Nacht der Jugend im Bremer Rathaus. Als frisch ernannter Unicef-Botschafter ergriff er klar Partei gegen Kindersoldaten und Landminen in Kambodscha und fand die Veranstaltung, die dieses Jahr unter dem Motto „Gegeneinander-Nebeneinander-Miteinander“ stand, überhaupt richtig klasse: „Es ist monstersinnvoll, was hier gesagt wird.“ Bei all den strahlenden Augen, dem aufgeregten Glucksen und den leuchtenden Wangen der sich um Fichte scharenden Girlie-Massen konnte der Ex-Werder-Profi und altgediente Fußballintellektuelle Marco Bode, der schon zum dritten Mal bei dem Event dabei war, ganz bescheiden im Hintergrund bleiben, in sich hineinlächeln und Autogramme schreiben. Auch ihn erkannten die Jugendlichen natürlich – im Unterschied zu CDU-Fraktionschef Jens Eckhoff oder SPD-Sozialsenatorin Karin Röpke, die sich inkognito unter die über tausend jugendlichen Rathhausbesucher mischen konnten.
In dem altehrwürdigen Gemäuer, das sonst vorwiegend Silberköpfe beherbergt, quatschten und knutschten die Kids, dass es eine helle Freude war. Der Grundkurs Religion des Ökumenischen Gymnasiums in Oberneuland stellte seinen „Bremer Wochenkalender der Weltreligionen“ vor – die Zwölfklässler hatten monatelang den verschiedensten Glaubensgemeinschaften in der Stadt hinterherrecherchiert. Interessiertes Publikum scharte sich um die Rapper von der Pestalozzischule wie um die Thai-Boxer oder die Mimen des Theaterspiels „Nathan impossible“, das der Grundkurs „Darstellendes Spiel“ des Schulzentrums Walliser Straße mit beeindruckender Intensität auf die Bühne brachte. Dann, gegen neun, war in der Oberen Halle wieder „Ratschlag“-Zeit: Die SchülerInnen sollten darüber diskutieren, „was dieses Stück in Euch ausgelöst hat“. Es war schon sehr beeindruckend, wie binnen kürzester Zeit über zehn Stuhlkreise gebildet wurden – jeder Gruppe gesellte sich ein „Promi“ bei (man konnte Fichte, Bode oder auch den Grünen Matthias Güldner erwischen). „Die Denkweise, dass es nur eine Wahrheit gibt, sollte man auf den Müll schmeißen“, sagte eine Schülerin. Ein muslimischer Junge mit Kippa entgegnete ihr bestimmt, sie solle seine Religion erst einmal genau studieren, bevor sie die Wahrheit des Islams so harsch kritisiere.
Natürlich war auch der Hausherr zugegen: Henning Scherf war jedoch nicht der Bürgermeister zum Anfassen, nein, umgekehrt wird ein Schuh daraus: Scherf lud sich eine Jugend zum Anfassen ins Rathaus ein – (fast) niemand blieb ohne Körperkontakt zu ihm. Wie aufgedreht drehte der große Mann seine Runden im ersten Stock, drückte Hände, umarmte, das Scherfsche Lächeln wie in Stein gemeißelt. Ein türkischer Junge von der Gesamtschule Ost war, als der Mann seine goldene Halskette inspizierte, so baff, dass er noch Minuten später kopfschüttelnd „Wahnsinn“ sagte. Auch, dass sich Scherfs Distanzlosigkeit rächen kann, zeigte sich an diesem Abend: Minutenlang prangte ein Riesen-Antifa-Aufkleber mit der Aufschrift „Be a criminal“ auf dem Sakko-Rücken des Bürgermeisters und sorgte für verstohlenes Grinsen.
„Boah, ich hab gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist“, sagte eine Schülerin, als sie gegen elf Uhr auf Plateauschuhen das Rathaus verließ. „Krass, wie langweilig“, krähte der gepiercte Baggy-Träger neben ihr. Am Eingang harrten viele Jugendliche noch lange aus, rauchten und tranken aus Bierdosen. Manche starrten auf die Displays ihrer Handys, gelegentlich ertönte ein kehliges Lachen. „So ne Veranstaltung lebt von einem gewissen Chaos“, hatte Marco Bode gesagt. Doch in Bremen nimmt sich selbst das Chaos friedlich aus. Markus Jox
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