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crime sceneGerald Kershs Roman „Nachts in der Stadt“ ist der Krimi der Saison

Kein Geld, keine Sonne

Der Winter unseres Missvergnügens. Alles so schön dunkel hier. Keine Sonne, kein Geld; draußen herrschen Kälte und Niedertracht. Alle jagen dem persönlichen Existenzminimum hinterher, und am Ende des Tages fehlen doch wieder fünf Pfennig an der Mark. Zeit, den operativen Rahmen etwas zu lockern. Wer kennt das nicht?

„Er war Geschäftsmann; aber das Wort Geschäft ist so vielsagend, dass es fast bedeutungslos ist. Viele Händler werden als Geschäftsleute bezeichnet, bis man sie verhaftet; dann nennt man sie Ganoven. Und viele Geschäftsleute werden als Ganoven bezeichnet, bis sich herausstellt, dass sie nur harte Geschäftsleute sind.“

Moral ist etwas, das sich nicht viele leisten wollen. Aber was ist, wenn sich manche Moral nicht mehr leisten können? In meinem kleinen, verschissenen Boheme-Kulturkreis spricht der eine von Bankraub, der andere wollte unlängst dem Ruf der Pornoindustrie folgen, und der Dritte ist auf dem besten Weg, als Dealer eine Strohfeuerkarriere hinzulegen. Täglich wächst das Grundrauschen der halblegalen und illegalen Lebensentwürfe. Schmuddelig und schmutzig ist das eine, das andere ist sauber – aber rein? Oder doch nur Trickbetrug inkl. 16 % MwSt.?

„Wozu taugt Geld? Kann man in zwei Betten gleichzeitig schlafen? Kann man zehnmal am Tag Mittag essen? Also, wozu ist Geld gut?“ Nur die Randfiguren klopfen Sprüche wie diese. Sowohl im Leben als auch in Gerald Kershs wohl wichtigstem Roman, „Nachts in der Stadt“. Ich zähle in diesem endlich in Deutschland veröffentlichten Ausnahmewerk genau drei, mehr und minder unwichtige Nebenfiguren, denen Geld gleichgültig ist. Um sie herum, in Londons inneren und äußeren Höllenkreisen mit dem Picadilly Circus als Mittelpunkt, sind die Menschen in den Nachkriegstagen mit nichts anderem als Geld beschäftigt. Ebenso gut könnten die Geschichten im New York der Neuzeit spielen, dann wäre der Soundtrack vom Wu-Tang-Clan: „C.R.E.A.M. – Cash Rules Everything Arounds Me“.

Beängstigend zeitlos zeichnet „Nachts in der Stadt“ das Bild einer Gemeinschaft, die nur noch im gegenseitigen Betrug eine erfüllende Aufgabe findet. Unsere Hauptfigur ist Harry Fabian, eine wieselflinke Ratte, die gern behauptet, Broadway-Komponist oder Ähnliches zu sein. In Jules Dassins freier Adaption mit dem Originaltitel „Night And The City“ wird Harry 1950 von Richard Widmark dargestellt, 1992 dann in Irwin Winklers gleichnamiger Verfilmung von Robert De Niro.

Doch selbst Schauspieler mit diesem Potenzial, das Böse und Schlechte zu verkörpern, können diesem Harry Fabian, wie Kersh ihn mit unnachahmlicher Detailfreude beschreibt, nie gerecht werden. Kersh witzelte übrigens, er wäre mit 40.000 Dollar für die Filmrechte der Rekordverdiener unter den Autoren – pro (verwendetes) Wort hätten ihm die Produzenten 10.000 Dollar gezahlt.

Sein Harry Fabian steckt voller Schattierungen und einer irrwitzigen kriminellen Energie. Wenn alles wie geplant seinen Lauf nähme, würde er auf dem Weg zum Ziel seine 23-jährige Freundin für 150 Pfund verkaufen – gleichzeitig wirkt seine geheuchelte Liebe zu Zoe selbst auf den Leser nahezu überzeugend. Jedes Rädchen der Geschichte, vom ewig verrotzten Im-&-Export-Typen über den eisigen Seelenverkäufer bis zum beherzten Ringer, arbeitet mit einer eigenen, zwingenden Logik. Kersh beobachtet nicht nur, er seziert seine Figuren und trägt Licht in die verborgenen Winkel, in denen sich Motive wie Abgründe auftun.

Das verleiht dem 1938 erstmalig in England veröffentlichten Buch die Qualität des Klassikers. Nicht zuletzt verrät aber diese Präzision und Tiefe der Charakterisierungen, was den vom Schicksal gebeutelten Kersh eigentlich bis zu seinem Tod 1968 antrieb: Der Mann hat seine Loser einfach geliebt.

LARS BRINKMANN

Gerald Kersh: „Nachts in der Stadt“. Aus dem Englischen von Ango Laina. Pulp Master, Berlin 2002, 415 S., 11 €

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