Wie Europa der Holzfällerin half

aus Vulcan KENO VERSECK

Der Anruf erreichte sie an einem sonnigen Oktobermorgen, als sie mit dem Wagen unterwegs zum Wald war. Sie konnte es kaum glauben. 257 Firmen hatten sich beworben, mehr als 100 Firmen waren in die Vorauswahl gekommen, nur 14 von ihnen konnten die Ausschreibung am Ende gewinnen. Ausgerechnet ihre Holzhandelsfirma war darunter.

„Wir hatten doch kaum Erfahrung“, sagt Cristina Hartagan. Ihre Stimme klingt ein wenig nostalgisch, so als erinnere sie sich an eine erste große, bestandene Prüfung ihrer Jugend. „Die EU unterschrieb einen Vertrag mit uns! Ich bin rechts rangefahren, weil ich so aufgeregt war.“ Ihr Mann Silviu, neben ihr im Wagen, war skeptisch. „Cristina ist in die Luft gesprungen und hat in die Hände geklatscht wie ein Kind. Ich habe gesagt, ich glaube es erst, wenn wir es schriftlich haben.“

Als die beiden zurück ins Büro kamen, fanden sie das Fax mit der Bestätigung: Cristina Hartagan würde für ihre Firma „Sahara Prest SRL“, ansässig in der Kleinstadt Vulcan im westrumänischen Schiltal, 20.000 Euro aus dem Phare-Fonds der EU erhalten, um neue Sägemaschinen und Holztransporter zu kaufen, die Produktionskapazität zu erweitern und Arbeitslose zu beschäftigen. Genauer: ehemalige Bergarbeiter.

Von denen gab und gibt es genug. Das Schiltal, 350 Kilometer westlich von Bukarest, war einst eine der größten Steinkohlebergbau-Regionen Europas, vom Ceaușescu-Regime überdimensional ausgebaut. Unter den 160.000 Menschen im Schiltal arbeitete früher jeder Vierte in einem Bergwerk. Heute sind nur noch ein paar tausend Bergarbeiter übrig. Die Kohleförderung, meistens mit Hacke und Schaufel und unter gefährlichen Arbeitsbedingungen, ist seit langem unrentabel. Weil der rumänische Staat es sich nicht mehr leisten konnte, das Schiltal mit Millionensummen zu subventionieren, wurden seit 1997 massenweise Bergarbeiter entlassen und viele Minen geschlossen.

Auch Cristina Hartagan, heute 30 Jahre alt, war bis 1997 beim Nationalen Steinkohleunternehmen angestellt. Sie war als Elektronikerin im Bergwerk ihres Geburtsortes Vulcan unter anderem für Instandhaltung und Reparatur der Funkanlagen zuständig. Eine Arbeit, bei der sie oft herumsaß, die schlecht bezahlt war. Sie wusste, dass das Bergwerk bald geschlossen werden würde. Sie wartete nicht darauf. Sondern kündigte, als ein Bekannter ihr anbot, sie könne für ihn Holzlieferungen organisieren. Vom Geschäft und von Geschäften hatte sie keine Ahnung. Sie wusste weder, mit welchen Maschinen in der Holzindustrie gearbeitet wird, noch, welches Holz für Möbel, welches zum Bauen, welches für Zelluloseherstellung geeignet ist. Nicht einmal die Baumsorten, sagt sie, konnte sie unterscheiden.

Von ihrem Mann, auch er heute 30, der als Sporttrainer arbeitete, borgte sie sich ein Monatsgehalt. 1,5 Millionen Lei, damals etwa 200 Euro – ihr Anfangskapital. Als sie zum ersten Mal in den Wald ging, um sich Holz anzusehen, hatte sie Stöckelschuhe an. Der Förster, den sie gebeten hatte, ihr zu helfen, schaute sie schräg an. Er kam trotzdem mit ihr.

Schwerlich könnte ihr jemand einen Gefallen abschlagen. Cristina Hartagan hat eine helle, fröhliche, immer zuversichtliche Stimme. Sie lächelt meistens, wenn sie spricht, und wirkt zugleich entschlossen und energisch.

Mit Kettensäge und Pferdekarren

Sie überzeugte Onkel Matei, wie sie ihn nennt, einen Rentner, der im Dorf Dealu Babii bei Vulcan lebt, ihr ein Stück Wald ohne Vorauszahlung zu überlassen. Sie kaufte eine Kettensäge auf Raten, fand Waldarbeiter, die bereit waren, auf ihren Lohn zu warten. Mit einem Karren und zwei Pferden brachte sie das erste geschlagene Holz zur Laderampe am Bahnhof Vulcan.

Das Geschäft lief von Anfang an gut. Sie schrieb sich in den Verband der Holzindustrie ein, gewann neue Kunden, konnte Spezialmaschinen und Holztransporter mieten.

Im Frühjahr 1998 hörte ihr Mann von dem EU-Projekt, das im Schiltal kleine und mittlere Unternehmen unterstützen und Arbeitsplätze schaffen sollte. Silviu Hartagan gab seine Stelle als Kampfsporttrainer bei einer Armeeeinheit auf und begann, für die Firma seiner Frau den Antrag auszuarbeiten. Sechs Monate später kam die Erfolgsnachricht, das Projekt war genehmigt.

Silviu Hartagan erinnert sich an die Anfangseuphorie: „Es war viel Geld, 20.000 Euro. Aber nicht die Summe zählte. Wichtiger war der Impuls an sich. Dass die EU uns jungen Leute vertraute. Bis dahin hatte ich geglaubt, wir sind nicht kompatibel mit Europa, wir Rumänen machen unsere typischen balkanischen Geschäfte. Als wir den Vertrag unterzeichnet haben, hat sich meine Sicht geändert. Ich habe gesehen, wir denken ähnlich wie die Leute in der EU.“

Die Freude des Ehepaares verwandelte sich in Frustration. Wie alle EU-Finanzhilfen für Projekte in den Beitrittsländern wurde auch dieses von einer nationalen Behörde koordiniert: vom Industrie- und Handelsministerium. Und wenn Silviu Hartagan auf das Ministerium zu sprechen kommt, dann wird er, der Skeptiker, zum Pessimisten. Mehrmals monatlich habe er seitenlange Berichte über den Verlauf des Projektes schreiben müssen. Inspektoren des Ministeriums hätten keinen Aufschub geduldet. Mitten im eiskalten Dezember habe die Firma ein Betonfundament für die neue Sägeanlage gießen müssen – eine Arbeit für wärmere Jahreszeiten. Zugleich habe sich die Auszahlung des Geldes, geplant in vier Tranchen, jedesmal verzögert, die Firma habe große Summen vorstrecken müssen. Überhaupt, anstatt beraten zu werden, etwa in Rechtsfragen oder bei Bankangelegenheiten, hätten er und seine Frau die Inspektoren ständig überzeugen müssen, dass alles seine Richtigkeit habe.

Entnervt wollten Cristina und Silviu Hartagan das Projekt im Februar 1999, nach drei Monaten, hinwerfen und die bis dahin ausgezahlte Summe zurückerstatten. Das Industrie- und Handelsministerium antwortete prompt: Das sei nicht möglich. Das Ministerium müsse der EU mit dem Projekt beweisen, dass Rumänien fähig sei, im Schiltal etwas auf die Beine zu stellen. Andernfalls würden Hilfen aus Brüssel gestrichen. „Wir haben weitergemacht“, sagt Silviu Hartagan, „Aber ich habe gemerkt, dass es nicht um uns ging, sondern darum, dass das Ministerium eine gute Visitenkarte in Brüssel brauchte.“

Das Image. In Dokumenten rumänischer Behörden über das Schiltal und seinen Strukturwandel ist fast nur Beschönigendes zu lesen. Tatsächlich könnte die Region heute als ein europäisches Paradebeispiel für das Elend in einer einst monoindustriellen Region dienen. In manchen Orten des Schiltals erreicht die Arbeitslosigkeit 50 Prozent. An vielen Straßenecken stehen bettelnde Kinder. Viele Neubausiedlungen sehen aus wie nach einem Bürgerkrieg: kaputte Dächer, eingeschlagene Scheiben, ausgebrannte Wohnungen, dazwischen noch bewohnte Teile, abgekoppelt von Strom- und Wasserversorgung.

Wer bereichert sich diesmal?

Der Strukturwandel, den rumänische Regierungen seit 1997 im Schiltal in Gang setzten, scheiterte anfangs kläglich: Entlassungswillige Bergarbeiter bekamen hohe Abfindungen, besuchten Kurse in Betriebswirtschaft und lernten, mit Computern umzugehen. Eine Region voller erfolgreicher Kleinunternehmer und IT-Spezialisten, wie mancher Ministerialbeamte geglaubt hatte, wurde das Schiltal nicht. Stattdessen marschierten verzweifelte Bergarbeiter Anfang 1999 auf die Hauptstadt Bukarest und brachten Rumänien an den Rand des Ausnahmezustandes.

Für den Strukturwandel im Schiltal stellte die EU bisher über 20 Millionen Euro zur Verfügung. Dass nicht wenige Projekte scheiterten und so manche Summe anderswo ankam, als an ihrem Bestimmungsort, das glauben nicht nur die meisten Menschen im Schiltal, es steht – diplomatisch verhüllt – auch in EU-Dokumenten.

„Früher habe ich die Nachrichten in Zeitungen und im Fernsehen über neue EU-Projekte mit Interesse und Hoffnung verfolgt“, sagt Cristina Hartagan. „Wenn ich heute etwas darüber lese, denke ich jedesmal: Na, wer wird sich jetzt wieder bereichern?“ Sie spricht aus eigener Erfahrung. Als sie und ihr Mann mit Hilfe der staatlichen Arbeitsvermittlungsbehörde ehemalige Bergarbeiter einstellen wollten – wofür sie Zuschüsse erhalten hätten –, verlangte der regionale Behördenchef ein Bestechungsgeld. Die beiden verzichteten und suchten ihre Arbeiter selbst.

Bei den Hartagans arbeiten inzwischen 18 Leute, die meisten ehemalige Bergarbeiter. Sie verdienen durchschnittlich knapp zwei Millionen Lei, 60 Euro, etwas mehr als der offizielle Minimallohn. Kein Arbeiter ist mit dem Gehalt zufrieden. Aber alle wissen, einen besseren Arbeitsplatz im Schiltal fänden sie nur schwer. Eine Köchin kocht jeden Tag warmes Essen für die Arbeiter, bei rumänischen Firmen eine Seltenheit. Einige Kinder aus armen Familien der Nachbarschaft kriegen immer einen Teller Essen ab. Gerade wird ein Haus mit Unterkünften für Arbeiter gebaut, die von weiterher kommen.

Viele Freunde und Bekannte von Cristina und Silviu Hartagan bezweifeln, dass die Firma eine Zukunft hat. Aber das Ehepaar will weitermachen. Bei der Frage, ob sie ihr EU-Projekt für einen Erfolg halten oder nicht, zögern sie lange. Dann sagt Cristina Hartagan: „Für mich hat sehr viel gezählt, dass die EU unser Projekt genehmigt hat. Das sind Leute, die kennen uns gar nicht. Trotzdem kümmert es sie, was hier geschieht.“