was das Leben verändert und wie das geht von WIGLAF DROSTE
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So oft hat sich das Leben angeblich verändert in den letzten 14 Monaten, dass ich mal nachkucken möchte, ob denn etwas daran ist. Zwar fehlte den äußeren Ereignissen die Kraft, tief und einschneidend ins Leben einzuwirken; von Leuten allerdings, die ohnehin vorhatten, mal richtig die Sau rauszulassen, wurde der elfte September 2001 zum Anlass genommen, genau das auch zu tun. Der Fall zweier Türme in New York war ein wunderbarer Vorwand, das atavistisch-bellizistische Potential zu aktivieren; die Mischung aus Wutundtrauer, Schnupftuchpatriotismus und Drop a few Bombs zog massenhaft Trittbrettfahrer und Konjunkturopportunisten an. Henryk Mittelinitial Broder meldete sich freiwillig auf den Posten des Militärpressesprechers. Neu war das nicht, doch so ungebremst hysterisch hatte der Mann sich zuvor nicht aufführen können. Wo Übergeschnapptheit zur Norm wird, ist der Verrückte König. Broders hechelndes Engagement ist so geistfern wie seine Botschaft deutlich: Speziell unsere Gebissträger träumen davon, noch einmal kraftvoll zubeißen zu können.

Auch Kurt Scheel, der charmante und eloquente Mitherausgeber des Merkur, zog die Rüstung an. Scheel, Kurt Scheel: Seele aus Dylan, Muskeln aus Mehl! Diese süße, gnubbelige kleine Marzipankartoffel von Mann wollte Krieg führen? Warum nur? Der Hang zum Rasen in der Meute ergreift auch Menschen, die nachweislich klüger sind als ihr mitläuferischer Instinkt. Intelligenz ist eine Waffe; in den Händen moralischer Fanatiker kann sie mörderisch werden oder selbstmörderisch. Der elfte September 2001 in New York war und ist mir gleichgültig, die Streitigkeiten der Beteiligten gehen mich nichts an. Wenn aber ein so gut gebautes Gehirn wie das Scheel’sche im primitiven Gut-Böse-Gewürge als Kollateralschaden verdampft, dann hat der Terror mittelbar auch mich erreicht.

Die nächste welt- und allesverändernde Nummer wurde im Mai 2002 in Erfurt aus dem Hut gezogen. Amok hieß das Spiel, und der Mob tobte. Es war wie bei einem tödlichen Unfall auf der Autobahn: Die Blutleckersorte zeigt, dass der Mensch vom Gaffen abstammt, und deklariert halbsteifen Voyeurismus als Interesse und Mitgefühl. Chefschmeißfliege ist Johannes B. Kerner – ein Mann, gegen den Schmierseife eine vergleichsweise brettfeste Konsistenz hat. Nichts Eiligeres hatte er zu tun als Erfurter Kinder in seine Sendung zu locken und ihnen den Tränenonkel zu machen. Das Wort dafür heißt Kindesmissbrauch, und Kai Diekmann, Chefredakteur von Bild, hätte direkt eine der Schlagzeilen auspacken können, mit denen er sonst den Volkszorn organisiert: „Es war wieder so ein Schwein.“ Das ist die Sprache von Bild und von Diekmann, und Kerner fingert auf derselben Klaviatur. Weshalb der Medienpornograf Diekmann den Mediengrafporno Kerner auch in Ruhe lässt – Kerner ist die TV-Verlängerung von Diekmann, wie Diekmann die Print-Verlängerung von Kerner ist. Jauch plus e aber sind sie beide. Und der Gedanke an sie hat der deutschen Sprache hat ein neues Wort geschenkt: erfurten.