piwik no script img

Die Metamorphose des Bent Sørensen

Wie aus einem Kernphysiker ein Energiephysiker wird, der mit Visionen und Engagement auf seine Weise Politik macht. Ein Portrait

von BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Bent Sørensen stapelt gerne tief. Als er 1975 in der renommierten US-amerikanischen Fachzeitschrift Science mit seinem Szenarium über die Energieversorgung mit erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2050 und die technische Machbarkeit einen geradezu revolutionären Artikel veröffentlichte, beschrieb er sein Heimatland folgendermaßen: „A small, homogenous geographical region, namely Denmark“ – eine kleine, geografisch homogene Region namens Dänemark.

Diese Bescheidenheit ist typisch für den 61-jährigen Physiker, der mit seinem Kinnbart und seinem Wollpullover auch als zupackender Landwirt durchgehen könnte. Dabei gibt es eine ganze Menge, worauf Sørensen stolz sein könnte. Er hat sein Physikstudium, das er 1960 am Niels-Bohr-Institut begann und das normalerweise acht Jahre dauert, in fünf Jahren absolviert. Nach seinem Diplom über die Kernstruktur bekam er am Institut sofort eine Festanstellung, und kurze Zeit später arbeitete er in Japan und den USA mit Physiknobelpreisträgern und anderen namhaften Physikern zusammen. Sein Interesse damals galt der Kernphysik. Der Grund: „Ich wollte mit moderner Physik arbeiten.“

Als Bent Sørensen Ende der Sechzigerjahre in Berkeley am Naturwissenschaftlichen Forschungsinstitut beschäftigt war, wurde er mit einem Phänomen konfrontiert, das ihm bis dahin vor lauter Fermeonen, Bosonen und Fermionen verborgen geblieben war: der Politik. „Es war die Zeit von Flower Power, Studentenrevolten, Vietnamkrieg und Tränengaseinsätzen wie im Krieg“, erzählt er in seinem kleinen Büro an der Universität Roskilde, in dem Regale bis hoch an die Decke mit Büchern voll gestopft sind und wo gerade mal Platz für zwei Personen ist. Plötzlich verstand der Wissenschaftler, der zuvor nur die Welt der Physik erforscht hatte, „wie die Dinge in der Gesellschaft zusammenhängen“. Das blieb nicht ohne Folgen: „Ich entwickelte ein politisches Bewusstsein und merkte, dass es wichtig ist, sich politisch zu engagieren.“

Er wurde zu einem wichtigen Vertreter der Antiatombewegung und stieß dabei nicht nur auf Gegenliebe. „Wie kann jemand Physiker sein und etwas gegen Atomkraft haben?“, wurde er oft von Kollegen gefragt. Sørensens Antwort: „Das wissenschaftliche Studium der Kernstruktur heißt nicht, auch Kernenergie für Elektrizität benutzen zu wollen.“ In Artikeln und Vorträgen, bei Auftritten im Fernsehen, bei Reden auf Demonstrationen und im Parlament warnte er, lange vor Tschernobyl, vor den Gefahren der Kernkraft.

Mit diesem Engagement gegen Atomenergie ging eine interessante Metamorphose einher. Aus dem Kernphysiker Sørensen wurde der Energiephysiker Sørensen. „Wenn ich keine Atomkraft will“, sagt er, „kann ich nicht nur kritisieren, sondern muss etwas anderes vorschlagen.“ Und das tat er. Mit visionärem Eifer.

Er veröffentlichte Mitte der Siebzigerjahre, als es kaum Publikationen zu erneuerbaren Energien und in Dänemark noch nicht einmal ein Energieministerium gab, sein Plan über eine Energieversorgung mit Solar- und Windenergie und Biomasse und zeigte die Machbarkeit auf. Er gab das Buch „Erneuerbare Energien“ heraus, dessen dritte Auflage in Arbeit ist und das längst zu einem Standardwerk wurde. Er war an der Erstellung alternativer Energiepläne für die dänische Regierung beteiligt. Er war lange Zeit Mitglied im „Zwischenstaatlichen Ausschuss für Klimafragen“, der vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen und der Weltorganisation für Meteorologie 1988 ins Leben gerufen wurde. Er arbeitete, um auch die Wirtschaft in der Praxis kennen zu lernen, einige Jahre als technischer Direktor einer Planungsfirma, die Energieprojekte realisiert. Und mit der Novator Advanced Technology Consulting, deren Vorsitzender er ist, wurde er zu einem gefragten Experten für Umweltministerien und Regierungen im Ausland.

Der Erfolg seiner Arbeit kann sich sehen lassen. Längst weiß jedes Kind, was erneuerbare Energien sind. In den Achtzigerjahren verabschiedete sich die dänische Regierung von ihren Plänen, Atomkraft als Energiequelle zu nutzen. Ein alternativer Energieplan ist heute nicht mehr nötig – der offizielle ist inzwischen alternativ genug. Gab es Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre zweitausend Windräder in Dänemark, sind es heute mindestens doppelt so viele. „Damit werden fünfzehn Prozent der Elektrizität gewonnen“, sagt Sørensen.

Einziger Wermutstropfen: Die neue, rechtskonservative Regierung in Kopenhagen rudert in Sachen erneuerbare Energien zurück und hat einige Programme gestrichen. Das überrascht Sørensen. „In den letzten fünfzehn Jahren gab es zwischen Regierung und Opposition in diesem Bereich Übereinstimmung.“ Bis zum Regierungswechsel saß Sørensen im Hydrogen- und im Solarkomitee, die entsprechende Projekte evaluierten. Diese Komissionen gibt es nicht mehr. „Die neue Regierung weiß nicht, was erneuerbare Energien sind“, sagt Sørensen. Es klingt nicht empört, sondern traurig. „Es ist stiller geworden.“

Der Europäische Solarpreis „für besonderes Engagement für erneuerbare Energien“, den Bent Sørensen im Dezember erhält, ist eine späte Anerkennung für seine Arbeit. Er bekommt ihn unter anderem für seine akademische Unabhängigkeit, seinen Einsatz für alternative Energieformen und die wissenschaftliche Verbreitung seiner Forschungen. „Es gab schon Zeiten, wo ich mich fragte, ob das, was ich mache, Gedankenspinnerei oder möglich ist“, sagt er und lacht.

Deshalb freut es ihn schon, nicht nur Anerkennung in Dänemark zu bekommen, sondern auch aus Europa. Ansonsten sind Preise für ihn „eine hübsche Sache“, mehr nicht. Was soll einer sagen, der schon eine ganze Reihe auch internationaler Auszeichnungen bekommen hat und vor über zehn Jahren von der dänischen Königin zum Ritter geschlagen wurde? Sørensen denkt über Urkunden hinaus. „Ich glaube an die Intelligenz der Menschheit.“ Uneingeschränkt? „Ein bisschen“, fügt er lachend hinzu.

Wieso ist Sørensen Physiker geworden? Bei dieser Frage muss er überlegen. „Ich fand Physik sehr interessant“, sagt er. Und: „Physik ist kein schlechter Ausgangspunkt für die Lösung technischer Probleme.“ Plötzlich erinnert er sich an eine Geschichte aus seiner Kindheit. Noch bevor er anfängt zu erzählen, muss er lachen. „Ich war mit Freunden auf dem Spielplatz, und wir wollten herausfinden, ob die Erde wirklich rund ist. Also haben wir im Sandkasten angefangen zu graben.“

Und? „Wir haben keine Chinesen gefunden.“ Sørensen lacht so herzlich, dass es leicht fällt, sich ihn als kleinen Jungen im Sandkasten vorzustellen, wie er versucht, die Welt zu verstehen. „Vielleicht bin ich deshalb Theoretiker geworden“, sagt er und lacht wieder.

Sørensen lebt in Gilleleje, einer kleinen Stadt, sechzig Kilometer nördlich von Kopenhagen, an der Nordküste von Seeland, dem nördlichsten Ort der Hauptinsel Dänemarks. Zusammen mit seiner Frau, einer Chemikerin, wohnt er in einem Haus am See. Die beiden Kinder – eine Tochter, die sich der Computerwissenschaft widmet, und ein Sohn, der Chemieingenieur ist – sind längst erwachsen und aus dem Haus. Das Haus hat er, als er es vor einigen Jahren erwarb, mit Bedacht ausgewählt. Nicht nur weil er vom Balkon und vom Arbeitszimmer aus die Wellen des Wassers hören kann. Sondern weil es auf beiden Seiten mit Holz verkleidet ist und somit einen geringen Wärmeverbrauch hat. Gerne würde Sørensen Solarzellen auf dem Dach installieren. „Aber“, so klagt er, während er Bioroséwein und Honigkuchen bringt, „es ist fast unmöglich, an der Küste ein Haus zu finden, das gut genug isoliert ist“. Also begnügt er sich damit, dass ein Drittel des Stroms von Windenergie erzeugt wird und er zumindest die Lampen im Garten über Solarzellen zum Leuchten bringen kann.

Ginge es nach Sørensen, würde er bis zum Alter von siebzig Jahren forschen, über die Optimierung organischer Zellen beispielsweise, womit er sich zurzeit beschäftigt. Doch das Rentenalter in Dänemark liegt bei 67 Jahren. Auch ohne die Physik hat der Physiker gut zu tun. Während Sørensen beruflich weit in die Zukunft schaut, blickt er privat schon mal weit zurück in die Vergangenheit. Seit einiger Zeit arbeitet er an einem Buch über Musikgeschichte. „Es ist vielleicht eine ungewöhnliche Musikgeschichte“, sagt er. Siebzigtausend Jahre geht er zurück, bis zur „Musik“ der Neandertaler, die sie beispielsweise auf Hirschhörnern machten. Zudem will er bisherige Gewichtungen etwas durcheinander bringen: „Mehr Italiener in der Renaissance und weniger deutsche und österreichische Komponisten.“

Bent Sørensen schreibt nicht nur über Musik, er macht auch Musik. Besser gesagt, er lässt sie machen. Von seinem Computer. Das Ergebnis sind Stücke mit interessanten Mischungen aus Marimba und Vogelstimmen oder aus Zwölftonmusik und menschlichen Stimmen oder aus elektrischem Klavier und Xylophon. Wie in der Physik will Sørensen auch in der Musik etwas Neues schaffen.

In einem weiteren Projekt beschäftigt sich Sørensen damit, alte Schallplattenaufnahmen in verbesserter Klangqualität auf CD zu bringen. Das macht er nur für den Privatgebrauch und „wegen des Gefühls beim Hören“. Obwohl er meint, dass seine Methode bessere Ergebnisse bringt als die herkömmlichen. „Ich glaube, ich könnte es besser.“ Dieses „ich glaube“ klingt ein bisschen wie „ich weiß“.

Da ist sie wieder, diese Bescheidenheit des Bent Sørensen. Vielleicht rührt sie daher, dass er auch ohne Ehrungen und Auszeichnungen weiß, was er geleistet hat. Zwar bedeutet die Energiepolitik der neuen dänischen Regierung einen Rückschlag für sein jahrelanges Engagement, Einfluss aber wird Bent Sørensen weiterhin haben. „Viele Abteilungsleiter im Energieministerium sind ehemalige Studenten von mir“, sagt er und lacht etwas diebisch.

BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA, 38, ist Reporterin der taz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen