piwik no script img

Mogelpackung Zivildienst

Deutsch-russische „Herbstgespräche“ thematisieren die Rolle der russischen Armee. Ein Fazit: Statt Zivildienst zu erleichtern, bringt eine neues Gesetz noch mehr Probleme

BERLIN taz ■ Bei seiner ersten Lesung im russischen Unterhaus, der Duma, hatte der Gesetzentwurf zum Zivildienst fortschrittlich geklungen. Doch in seiner endgültigen Form ist er zum Zivildienst-Verhinderungsgesetz geworden. „Das ist ein voller Sieg der Militärs, er zeigt ihren Einfluss auf die russische Gesellschaft“, erklärte der Duma-Deputierte Alexander Barannikow, von der „Union Rechter Kräfte“.

Die Rolle der Armee in der russischen Gesellschaft war nur ein Thema bei den deutsch-russischen „Herbstgesprächen“, die der Verein Deutsch-Russischer Austausch, die Heinrich-Böll-Stiftung und die Evangelische Akademie zu Berlin am vergangenen Sonnabend auf der Insel Schwanenwerder veranstalteten. Die Tagung war dem Verhältnis von Staat und Jugend in beiden Ländern gewidmet. Eine von drei Arbeitsgruppen aus Vertretern von NGOs, Politikern, Experten und Bürgern beschäftigte sich mit dem kürzlich verabschiedeten russischen Gesetz über den alternativen Zivildienst.

Fast alle anwesenden BürgerInnen der russischen Föderation stimmten der Einschätzung Barannikows zu: ein vernünftiges Zivildienstgesetz könne es erst nach einer tief greifenden Armeereform geben. Junge Männer sollen in Russland dreieinhalb Jahre für den Zivildienst aufbringen (der Wehrdienst dauert zwei Jahre). Auch soll der Zivildienst unter anderem in Armeeeinheiten geleistet werden. Die zahlreichen Todesfälle von Rekruten im friedlichen Hinterland (offiziell 1.000 pro Jahr, mit dreimal höherer Dunkelzifffer), ereignen sich schon heute vor allem dort, wo sie Dienst ohne Waffen leisten, in den so genannten „Baubataillonen“. Hat der Soldat ein Gewehr im Spind, zögern seine Vorgesetzten, ihn zu foltern. Man kann sich vorstellen, was Zivis in Armeeeinheiten erwartet.

Um das Vorrecht, die Ersatzdienstleistenden auf Stellen im zivilen Sektor zu vermitteln, hatte das russische Arbeitsministerium heroisch gekämpft. Nun muss es diese mit dem Verteidigungsministerium teilen. Wladimir Scharkow, stellvertretender Abteilungsleiter im Arbeitsministerium, versuchte trotzdem, Optimismus zu verbreiten. Er hofft, allein der technische Fortschritt werde die Armee früher oder später, im Interesse ihrer Effizienz, zu einer radikalen Reform zwingen. Als Illusion bezeichnete dies Ljudmila Wachnina von der Menschenrechtsorganisation Memorial: Den meisten russischen Offizieren gehe es nicht mehr um die Verteidigung des Landes, sondern allein ums Geschäftemachen: „Unsere Armee zerfällt gegenwärtig in eine Reihe kommerzieller Strukturen“, sagte sie: „Sie ist eine Quelle der Gesetzlosigkeit, ein schwarzes Loch, das staatliche Finanzen und junge Männer verschlingt.“

Entsetzt über diesen Schluss forderte Elisabeth Weber, Grünen-Referentin für Osteuropapolitik, man müsse künftig noch mehr über die Gestaltung der Nato-Kooperation mit der russischen Armee nachdenken.

Dies waren bereits die siebten vom Deutsch-Russischen-Austausch organisierten „Herbstgespräche“. Der Verein feierte gestern seinen zehnten Geburtstag. 1992 von Osteuropa-ExpertInnen in Berlin gegründet, hat er mit Fortbildungen, Spenden und Selbsthilfeprojekten tausenden von Menschen, vor allem in der russischen Provinz, geholfen. Gestern wurde eine gleichnamige Stiftung zur Unterstützung dieser Arbeit unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Rau ins Leben gerufen.

BARBARA KERNECK

Die Diskussion über das russische Zivildienstgesetz wird heute, 19 Uhr, in der Galerie der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, Rosenthaler Str. 40 fortgesetzt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen