: Spaß mit Nebenwirkungen
Was ist dran an Ergänzungslebensmitteln und Lifestyle-Pillen? Im Haus der Bürgerschaft stritten ExpertInnen über Nutzen und Risiken, gesundheitliche und marktwirtschaftliche Abwägungen
Gute Joghurts müssen „probiotisch“ sein, der Saft heißt heute „ACE-Drink“ und gegen Falten, Haarausfall oder Stress gibt es Pillen. So einfach wollten es sich die ExpertInnen beim gestrigen zweiten Bremer Forum zum gesundheitlichen Verbraucherschutz nicht machen.
Hintergrund der Gemeinschaftsveranstaltung von Verbraucherzentrale, Gesundheitssenatorin und Bremer Institut für Präventionsforschung (BIPS): „Früher kamen die Leute nach Kaffeefahrten zu uns, um aus Kaufverträgen für Rheumadecken rauszukommen. Heute werden ihnen kleine Köfferchen mit Ergänzungslebensmitteln angedreht, für 700 Euro aufwärts“, so die Leiterin der Verbraucherzentrale, Irmgard Czarnecki. Den verlorenen Überblick darüber, was nützt und was Betrug ist, wollten gestern über hundert VerbraucherInnen im gedrängt vollen Veranstaltungssaal im Haus der Bürgerschaft wieder gewinnen. Dazu geladen: Andreas Hahn vom Zentrum für Lebensmittelwissenschaft und angewandte Chemie der Universität Hannover und Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik. Sie referierten zu den Schwerpunkten „Functional Food“ und „Lifestyle-Pillen“.
Hahns These: „Ernährung soll heute nicht mehr nur für den Tagesbedarf an Kohlenhydraten, Vitaminen, Fetten, Eiweißen und Spurenelementen sorgen.“ Vielmehr solle Ernährung auch schützende und vorbeugende Substanzen transportieren, führte er aus. Dafür halte er das ernährungsphysiologische und gesundheitspolitische Konzept von sogenanntem „Functional food“ für „interessant“. Schließlich müsse sich die Gesundheitspolitik umorientieren vom „Reparieren“ aufs Vorbeugen. Außerdem gebe es die Bedürfnisse der Menschen nach Gesundheit und Wohlbefinden, sagte Hahn. Der Wunsch nach entsprechend unterstützenden Mittel sei gegben, „ob wir das wollen oder nicht“. Unzufrieden war auch Hahn darüber, dass es für die wenigsten Ergänzungslebensmittel Wirkungsnachweise gebe. Allerdings würden Studien, wie etwa „Verringert das tägliche Glas ACE-Saft nach zwanzig Jahren das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen?“, schwierig durchzuführen seien.
Kontrovers reagierte Gerd Glaeske: „Wollten die VerbraucherInnen zuerst das Mittel, oder hat die Industrie erst das Bedürfnis danach geweckt?“ Glücks- und Gesundheitsvorstellungen seien schließlich gesellschaftlich gemacht. An Beispielen wie Viagra, Kopfschmerztabletten oder Anti-Depressiva leitete er seine These her, dass die Nutzung von verschreibungspflichtigen Medikamenten für andere als die zugelassenen Indikationen Missbrauch sei. Übersetzt: Wenn man Kopfschmerztabletten vorbeugend oder zum Aufputschen nimmt, ist das Missbrauch, so ähnlich wie Doping. Berühmtester Fall: Viagra. Ursprünglich gedacht als Herzmittel, dann zugelassen als verschreibungspflichtiges Medikament nach einer Prostata-OP oder bei Querschnittslähmung bekommt man das Medikament heute auch im Internet, leider ohne Warnhinweise. Die laut Glaeske schon tausendfach eingetretene Folge: „Exitus beim Koitus“. Und dann sind da noch die Anti-Depressiva: Selbst Johanniskraut, dass so „natürlich“ daher käme, habe seine Nebenwirkungen, stellte Glaeske klar, vor allem dass es die Wirkung anderer Medikamente reduziere. Seine Beobachtung: „Jede Zeit hat ihr Lifestyle-Mittel.“ Vor zwanzig Jahren seien es die Tranquilizer gewesen, allen voran Valium. Das Ergebnis seien heute 1,1 Millionen Abhängige. Heute seien es die „Spaß-Pillen“. Glaeske warnte: Glücklichmacher ohne Nebenwirkungen gebe es nicht. ube
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