: „Nebel von Halbwahrheiten“
Der Preis fürs Zusammenleben war das Vergessen: Javier Cercas, Autor von „Soldaten von Salamis“, über die Unterschiede zwischen Deutschland und Spanien bei der Aufarbeitung des Faschismus
Interview JAN ENGELMANN
taz: Ihr Buch „Die Soldaten von Salamis“ ist in Spanien, aber auch in Deutschland auf großes Interesse gestoßen. Wie erklären Sie sich das?
Javier Cercas: Es muss wohl mit der gemeinsamen Historie zu tun haben. Wenngleich der Faschismus in Deutschland und Spanien völlig unterschiedlich verlief, gibt es natürlich Ähnlichkeiten. Aber mein Buch handelt eigentlich nur vordergründig von einem Faschisten, es benutzt die Figur von Rafael Sánchez Mazas als einen Vorwand, um über andere Dinge zu sprechen.
Obwohl er der Mitbegründer der Falange war und später ein Ministeramt unter Franco bekleidete, ist er vollkommen aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden.
Ja, darin liegt meines Erachtens der fundamentale Unterschied zur deutschen Vergangenheitsbewältigung. Bei Ihnen gäbe es von Sánchez Mazas sicher eine Biografie und er würde in den Geschichtsbüchern behandelt. Aber das ist bei uns nicht der Fall. Nach dem Tod Francos befürchtete man einen zweiten Bürgerkrieg, weil sich beide Lager weiterhin unversöhnlich gegenüberstanden. Man vermied gegenseitige Angriffe, um den Aufbau der Demokratie nicht zu gefährden. Als damals 13-Jähriger erschien mir dies falsch. Im Rückblick denke ich anders darüber. Ich vermute, diese Vorgehensweise war unvermeidlich. Spanien ist heute ein besseres Land als 1975, mit Wohlstand und Demokratie. Allerdings hat es einen sehr hohen Preis dafür gezahlt, denn das Ausmaß des Vergessens ist immens. Uns umgibt ein Nebel von Halbwahrheiten, Missverständnissen und Lügen. Niemand erinnert an Leute wie den republikanischen Kämpfer Miralles, der so etwas wie unser Che Guevara hätte sein können.
Hat die politische Amnestie also zu einer historischen Amnesie geführt?
Zumindest hat der Partido Popular (PP) von Ministerpräsident José Maria Aznar niemals öffentlich das franquistische Regime verurteilt. Könnte man sich Gleiches in Deutschland vorstellen? Viele Spanier dürfen unwidersprochen behaupten, Franco habe auch Gutes getan, zum Beispiel die Verkehrswege verbessert. Dabei kam dessen Regierung durch einen Staatsstreich an die Macht. Die Herren vom PP schweigen dazu beharrlich. Womöglich ändert sich das jetzt, ein Vierteljahrhundert nach Franco. Heute ist die junge Generation viel neugieriger. Eine meiner größten Überraschungen war, dass der Bürgerkrieg für sie tatsächlich etwas Unbekanntes ist.
Findet er denn keine Beachtung in den Lehrplänen?
Leider viel zu wenig. In Katalonien wird beispielsweise die Version unterrichtet, wonach der Bürgerkrieg einer zwischen dem unterdrückerischen Zentralstaat und dem katalanischen Volk gewesen sei. Das ist eine grauenhafte Lüge.
Von außen hat es den Anschein, als ob das Thema plötzlich auf der medialen Agenda wäre. In Madrid und Salamanca gab es jüngst Aufsehen erregende Ausstellungen, und die Neuerscheinungen stapeln sich in den Buchläden. Stimmt dieser Eindruck?
Eigentlich gab es immer ein gesteigertes Interesse am Bürgerkrieg, das sich in vielen Publikationen niederschlug. Aber die Perspektive darauf hat sich im Lauf der Zeit deutlich verändert, sie ist neutraler geworden. Mein Schriftstellerkollege Eduardo Mendoza hat über „Soldaten von Salamis“ gesagt, dass der Roman fast wie ein Western oder das Bürgerkriegsepos „Vom Winde verweht“ wirke, weil eine historische Distanz eingezogen ist. Und mit dieser zeitlichen Ferne wird es möglich, dass mein Buch mit der Schilderung einer Massenhinrichtung falangistischer Gefangener in einem Kloster beginnt. Es ist so passiert und darüber muss gesprochen werden. Ich erhalte übrigens viel Post mit derartigen Schilderungen von Menschen aus allen Schichten und Altersklassen, sodass ich sofort ein neues Projekt beginnen könnte.
Würden Sie sagen, dass es bislang eine Art Darstellungstabu für solche Geschehnisse gab?
Natürlich konnte man generell immer alles offen diskutieren. Aber in den Dörfern im ländlichen Spanien, wo jetzt zum Teil noch Massengräber ausgehoben werden, war das anders. Der Bürgerkrieg hatte dort zur Folge, dass Todfeinde jahrzehntelang nebeneinander lebten. Da ist eine ehrliche Aufarbeitung extrem schwierig. Und die vielen Romane, die in dieser langen Periode entstanden, waren meistens sehr revanchistisch und übten sich in extremer Schwarz-Weiß-Malerei. Sie sangen entweder das Loblied auf Franco oder schilderten ihn als Kinderfresser. Die historische Wahrheit ist natürlich weitaus komplexer und muss auch so abgebildet werden.
Als Günter Grass 1999 den Prinz-von-Asturien-Preis erhielt, gab er in seiner Dankesrede eine Definition literarischer Erinnerungsarbeit: „(…) wenn sich schließlich die Zunft der Historiker, müde des Streits um Fußnoten, im Ungefähr des Post-Histoire verläuft, dann steht die Literatur hoch im Kurs. Sie lebt von Krisen. Zwischen Trümmern blüht sie auf. Sie hört den Wurm ticken. Leichenfleddern ist ihr Geschäft. Ohne und gegen Bezahlung hält sie Totenwache und erzählt den Hinterbliebenen die alten Geschichten immer aufs Neue.“ Sagt Ihnen diese Definition zu?
Ich finde sie bemerkenswert. Richtig ist, dass Historiographie und Literatur sich zueinander komplementär verhalten. Die Literatur stützt sich auf die Geschichte und gelangt bis dort, wo jene nicht hinreicht. So kann uns nur Tolstoi verraten, was Napoleon in diesem und jenem Moment gesagt hat. Im Kern ist es die aristotelische Unterscheidung, der gemäß Literatur nach einer universellen Wahrheit und Geschichte nach einer konkreten Wahrheit strebt. Weil der Historiker so sehr an den Tatsachen klebt, vermag er nicht zu springen.
Viele meinen, dass der Diskurs des Franquismus eigentlich eine leere Hülse war, besonders wenn man ihn mit dem ideologischen Fundament des deutschen Faschismus vergleicht. Mussten Sie deshalb seine Geschichte so personalisiert erzählen?
Mag sein, aber das Interessante ist ja gerade, dass Sánchez Mazas einen Großteil der franquistischen Rhetorik entwickelt hat, weil er ein Schriftsteller, ein Poet war. Dem spanischen Faschismus fehlte es an Inhalt, er war vor allem eine Ästhetik, eine lyrische und idealistische Lebensweise. Authentische Faschisten gab es wenige. Es waren häufig Leute aus gutem Hause, die eine panische Furcht vor dem anrückenden Bolschewismus und der egalitären Gesellschaft hatten. Sie wollten lieber das patriarchalische, geregelte Leben der Vergangenheit. Also haben sie der kommunistischen Revolution eine Wut des Zusammenpralls, eine „vorgetäuschte“ Revolution entgegengesetzt. Sobald Franco an die Macht kam, war auch der Faschismus schnell ad acta gelegt. Es war nicht mehr als eine Dekoration, eine Fassade. Viele desillusionierte junge Anhänger wurden schon in den Fünfzigerjahren abtrünnig oder sind sogar zum Kommunismus übergelaufen. In jedem Totalitarismus steckt ein Idealismus, der anschlussfähig ist.
Hatte nicht auch der Anarchismus eine starke idealistische Ausstrahlung auf junge Menschen? Zumindest liest sich so Enzensbergers Doku-Roman über den Arbeiterführer Buenaventura Durruti, den er den 68ern als Exempel eines wahren Revoluzzertums vorhielt.
Ich kenne das Buch und liebe es. Der Anarchismus in Spanien war faszinierend, hat aber auch viel Schaden angerichtet. Sein Fehler war es, die Revolution sofort machen zu wollen. Dass er letztendlich scheiterte, lag hauptsächlich an der mangelnden Unterstützung aus Frankreich und Großbritannien, den internen Differenzen im republikanischen Lager und den kommunistischen Säuberungen. Und natürlich fehlte eine militärische Organisation; die wussten ja gar nicht, was ein Krieg wirklich bedeutet. Viele junge Anarchisten stauten ihre Ressentiments gegen die Mächtigen auf und mordeten dann wie die Tiere. Es war ein wahrer Blutrausch, bei dem vor nichts zurückgeschreckt wurde.
Gibt es in der heutigen politischen Sphäre noch immer verfeindete Lager?
Nein, ich sehe keine Teilung im Sinne der „dos Españas“ von damals. Die Konservativen und die Sozialisten haben keine so voneinander abweichenden programmatischen Vorstellungen. Es sind eher kulturelle Differenzen, die da eine Rolle spielen. Keinesfalls wird sich die Frontstellung von damals wiederholen. Aber die demokratische Kultur ist in vielen Aspekten noch fragil. Beispielsweise ist die gegenseitige Toleranz sehr gering ausgeprägt. Die fundamentale Intoleranz gegenüber Andersdenkenden beruht auf der autoritären Tradition in Spanien, die bis zur Inquisition zurückreicht.
Ist Spanien demnach für eine schonungslose Aufarbeitung seiner Vergangenheit gewappnet?
Ich denke, dass wir bereits dabei sind, ganz allmählich. Erst muss vielleicht die Generation aussterben, die den Krieg aktiv miterlebt hat. Und dann kommt uns womöglich die geglückte Modernisierung des Landes im Prozess der Aufarbeitung entgegen. Übergroßen Optimismus habe ich allerdings nicht.
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