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Selektiv und fremdbestimmt

Ein Jahr nach Pisa suchen Politiker aus aller Welt nach Antworten. Deutschen Schulen fehlt die Autonomie

BERLIN taz ■ Schon der Veranstaltungsort war eine Ironie. In den vergangenen beiden Tagen versammelten sich in Berlin Schulpolitiker und -beamte aus aller Welt, um sich zu fragen: Welche Konsequenzen zieht die Politik aus den Ergebnissen der Studie „Programme for International Students Assessment“ (Pisa). Dummerweise haben fast alle Teilnehmer des Tests, inklusive Mexiko, Fortschritte vorzuweisen. Hierzulande tut sich wenig – von Rangeleien zwischen Bund und Ländern, zwischen SPD und CDU abgesehen.

Die streitbare deutsche Lethargie ist umso erstaunlicher, als vor einem Jahr unweit des Forums des Beamtenbundes, wo sich die Experten diesmal trafen, der deutsche Pisa-Schock ausgelöst worden war: Ein Viertel der Schüler eingeschränkt lesefähig; krasse Leistungsunterschiede zwischen den Schulen; nirgendwo auf der Welt haben sozial schwache Schüler so geringe Aufstiegschancen wie im deutschen Schulwesen. Das waren die Ergebnisse, und die Tagung zeigte erneut: Die deutschen Schulen sind auf dem Sonderweg.

Die Pisaforscher haben ihre Daten noch einmal von den Computern durchrechnen lassen und ihre Schlussfolgerungen präzisiert. Bei fast alle wichtigen Erkenntnissen zeigt sich, dass Schulen hier wie fremdbestimmte, hochselektive Lehranstalten funktionieren.

Weltweit zeigt sich etwa, dass sich gerade in Schulen mit großen organisatorischen und pädagogischen Freiräumen auffalend viele Schüler mit guten Lernleistungen finden. Deutschland und Italien aber sind beispielsweise die einzigen Länder, in denen 90 Prozent der Schüler an Schulen lernen, die bei der Auswahl ihrer Lehrkräfte keinerlei Einfluss haben. Weltweit gilt die Lehrereinstellung- und entlassung als eines der wichtigsten Kriterien für Einfluss, neben der Kompetenz fürs Kursangebot oder der Schülerbeurteilung.

Auf die seit Veröffentlichung der Pisa-Ergebnisse vor einem Jahr verneinte Gretchenfrage der deutschen Schule gibt die OECD, die Pisa durchführte, inzwischen deutlichere Antworten. Die Forscher haben sich zum Beispiel die Struktur von Schulen angesehen und gefragt, ob integrative oder selektive Schulsysteme bessere Leistungen erbringen. Das Ergebnis, das Pisa-Chefinterpret Andreas Schleicher als Schaubild an die Wand warf, ist eindeutig. Rund um den Globus sind jene Schulsysteme besser, die ihre Schüler nicht nach Leistung sortieren. Im Wissenschaftlersprech heißt das: „Je differenzierender und selektiver ein Bildungssystem ist, desto größer sind die typischen Leistungsunterschiede zwischen Schülern mit günstigem und Schülern mit ungünstigem sozialen Hintergrund. Oder auf Deutsch: Wenn Schulen ihre Zöglinge früh nach Leistung sortieren, verstärkt sich der Effekt des „kulturellen Kapitals“ (Bourdieu), das sie von ihren Eltern mitbringen, ungeheuer. In Deutschland ist dies der Fall. Die Einzelstudie der Bielefelder Laborschule hat freilich gezeigt, dass das kein deutsches Naturgesetz sein muss. Dort sind die Leistungsunterschiede unter den Schülern generell kleiner als an anderen Schulen, und auch die herkunftsbedingten schlagen nicht so stark durch.

Auch die autoritäre Note deutscher Schulen war – aus dem internationalen Blickwinkel – wieder Thema. Die Pisa-Wissenschaftler haben bei ihren nachträglichen Korrelationsanalysen wieder herausgearbeitet, dass es wichtig für gute Schülerleistungeni ist, wenn ein anspruchsvolles Lernklima herrscht: Schüler lernen dann viel, wenn ihr Umgebung geprägt ist „von hohen Erwartungen und der Bereitschaft, sich anzustrengen.“ Andreas Schleicher rief aber sogleich warnend aus: „Verwechseln Sie das nicht mit Leistungsdruck!“

Der Pisa-Chefstatistiker hat Anlass zu dieser Bemerkung: Pisa wird von den deutschen Kultusministern vor allem so interpretiert, dass Leistung wichtig sei – eine, freundlich gesagt, enge Deutung. Schleicher wies darauf hin, dass sich bei den Befragungen deutscher Schüler gezeigt habe: Die Lehrer setzten sie stark unter Leistungsdruck – und interessierten sich andererseits wenig dafür, was die Schüler erreichen. Diese paradoxe Anforderung an Schüler, so Schleicher, ist nirgendwo so krass wie in Deutschland.

Zeit für die Politik, sich damit zu befassen. CHRISTIAN FÜLLER

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