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Das Leiden am Überleben

„Gebt mir wenigstens sein Bild, dass ich ihn in meinem Herzen begraben kann“

aus Srinagar BERNARD IMHASLY

Kaschmirer haben den Ruf, gern und gekonnt klagen zu können, auch in guten Zeiten, denn das fördert das Geschäft. „Suffering Moses“ heißt der bekannteste Touristenladen in Srinagar, doch was früher ein Augenzwinkern und einen ersten Kundenkontakt auslöste, ist heute ein schlechter Witz. Fast nur noch Armeeoffiziere kaufen hier. Beim Konkurrenten Ghulam Mohiddin & Son ist die Stimmung noch gedrückter. Der „Son“, der vor einigen Jahren in die USA ausgewandert war, ist tot. Zwei Jahre lang hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Dann kam eine Nachricht, nicht aus den USA und nicht von ihm. Die indische Armee informierte die Familie, dass unter einer Gruppe von Terroristen, die beim Überqueren der Grenze von Pakistan erschossen worden seien, eine Leiche sei, die ihr Sohn sein könnte.

Es gibt keine offiziellen Zahlen über die Zahl der Opfer des Bürgerkriegs in Kaschmir. Schätzungen schwanken zwischen 34.000 und 70.000 Toten. Doch sie sind ein schiefer Maßstab für die Wunden, die der Krieg geschlagen hat. „Wir messen die Schwere eines Konflikts an der Zahl der Toten“, meint der Journalist Muzamil Jameel. „Ein besserer Indikator wären die Überlebenden.“ Im Kaschmir-Tal trifft man heute keine Familie, die in den letzten zwölf Jahren nicht einen Sohn oder einen Vater verlor, von denen nicht ein Bruder oder ein Ehemann im Gefängnis saß, gefoltert wurde oder verschwunden ist. Jameel schätzt, dass der Konflikt 15.000 Witwen und 25.000 Waisen verursacht hat.

Ein Besuch bei dem Psychiater Mushtaq Margoob macht die Folgen drastisch deutlich. Im winzigen Warteraum seiner Praxis stehen bereits am frühen Morgen dicht gedrängt über fünfzig Patienten und ihre Angehörigen.

„Tufan“, sagt der Patient Imran Ali auf die Frage, was sein Gebrechen sei. „Tufan“ heißt „Sturm“ und dient dem Volksmund als Metapher für den Bürgerkrieg, aber auch für den Sturm, den der Konflikt in den Köpfen und Körpern der Menschen ausgelöst hat. Dr. Margoob zählt eine ganze Serie von Symptomen auf, denen er an diesem Morgen begegnet ist. Sie reichen von Konzentrationsschwäche und Redehemmung bis zu schizoiden Schüben, Panikanfällen bei Alleinsein oder in der Menge, häufiger Bewusstlosigkeit und Schweißausbrüchen. Eine Studie eines Studenten von ihm registrierte eine steile Zunahme von Epilepsie, Hautkrankheiten sowie Fehl- und Totgeburten. Besonders eklatant sei die Zunahme von Suiziden. Im SMHS-Spital von Srinagar wurden im letzten Jahr 567 Suizidleichen zur Obduktion eingeliefert. In den beiden anderen Stadtspitälern waren 201 der dort behandelten Selbstmordversuche im Jahr 2001 allein mit Pestiziden begangen worden.

Dieses Krankheitsbild würde noch düsterer, meint Margoob, wenn man die große Dunkelziffer berücksichtigte. Die Psychologin Sabha Husain, die für die Hilfsorganisation Oxfam eine Untersuchung über die psychischen Folgen von Gewalt macht, spricht von einer „psychischen Epidemie von katastrophalen Ausmaßen“. Sie schätzt, dass drei Viertel der Menschen im Tal – über eine Million Personen – unter verschiedenen Graden der Depression leiden. Und sie befinden sich im freien Fall, denn das therapeutische Auffangnetz ist klein und grob. In der Region von der zweifachen Größe der Schweiz gibt es nur zwei psychiatrische Kliniken, mit insgesamt 170 Betten und 5 Psychiatern. Die meisten der rund 500 Patienten, die jeden Tag zur Konsultation kommen, müssen mit Medikamenten abgespeist werden – „manchmal schaut der Arzt nicht einmal von seinen Unterlagen auf, wenn der Patient vor ihm steht“, sagt Husain. Im Umkreis der beiden Spitäler wimmelt es von Apotheken, die auch schwere psychotrope Medikamente ohne Rezept verkaufen. Husain: „Jeder Kaschmirer ist ein Medikamenten-Junkie.“

Die meisten Todesopfer des dreizehnjährigen Konflikts sind junge Männer, doch die überlebenden Opfer sind meist Frauen. 77 Prozent der letztjährigen Suizidopfer im SMHS-Spital waren junge Frauen, die meisten zwischen 16 und 25 Jahre alt. Der Krieg hat sie aus ihrer aufs Haus begrenzten Rollenordnung herausgerissen. Plötzlich sind sie Brotverdiener und müssen die Familie zusammenhalten. „Die Frauen müssen“, sagt Sabha Husain, „Schutz, Vertrauen, Sicherheit geben, ausgerechnet in einem Augenblick, wenn der gewaltsame Tod eines Ehemannes oder das Verschwinden eines Sohnes das Vertrauen in die eigene Person und in die Umwelt erschüttert hat.“ Sie müssen ihr Haus verlassen und Arbeit suchen, und sie werden dabei denselben demütigenden Körperkontrollen unterworfen, die jeder Bewohner Kaschmirs auf dem Weg zur Arbeit oder in den Basar mehrmals am Tag über sich ergehen lassen muss. „Jeder Tag ist ein Gerichtstag – wir müssen täglich beweisen, dass wir unschuldig sind“, erzählt die Begleiterin von Imran Ali.

Kaschmir gilt als eine der am stärksten militarisierten Konfliktzonen der Welt, mit rund 500.000 indischen Sicherheitskräften im Einsatz. Ihnen stehen nur 3.000 Untergrundkämpfer gegenüber. Doch deren geringe Zahl wird wettgemacht durch einen hohen Grad an Todesbereitschaft, ein unwegsames und schwach bevölkertes Rückzugsgebiet, das bis nach Pakistan hineinreicht, und die aktive oder erzwungene Hilfe der örtlichen Bevölkerung. Für Armee und Polizei macht dieses Muster jeden Zivilisten zu einem Verdachtsobjekt und birgt das Risiko, dass jeder Anschlag mit einer Vergeltungsaktion beantwortet wird, die meist Unschuldige trifft.

In diesem von Stress geladenen Konflikt gegen einen unsichtbaren Feind werden Frauen, so meint die Publizistin Urvashi Butalia, „von Männern – seien es Soldaten oder Militante – als Opfer sexueller Gewalt geradezu ausgesucht. Ihre Wehrlosigkeit wird als Provokation empfunden, und der gewaltsame Sexualakt wird zum ultimativen Ausdruck von Hass und Demütigung.“

In dem Ort Kunan Poshpora ereignete sich eine solche Tat, deren Folgen elf Jahre später noch sichtbar sind, etwa bei den dort lebenden zwölf gleichaltrigen Schulkindern. Am 23. Februar 1991 hatte eine indische Armeeeinheit in diesem idyllischen Bergdorf nahe der Grenze zu Pakistan eine Razzia durchgeführt, auf der Suche nach Militanten, die über die Grenze gekommen waren. Die meisten Männer hatten noch rechtzeitig fliehen können. Die Soldaten mussten unverrichteter Dinge abziehen, doch zuvor entluden sie ihre Angst und Aggression, indem sie dreißig Frauen vergewaltigten, verheiratete Frauen, Großmütter, Mädchen. Elf Jahre später sind viele der jungen Frauen – einige inzwischen Mütter – immer noch nicht verheiratet, weil kein Mann sie zur Frau nehmen will. Auch die verheirateten Frauen waren von ihren Männern verstoßen worden, weil sie „in den Augen Allahs Sünderinnen“ geworden waren. Erst der drohende Befehl einer Untergrundorganisation brachte die Ehemänner dazu, sie wieder aufzunehmen.

Nicht alle Betroffenen fallen in Depression. Parveena Ahangar ist eine der vielen Frauen, die in diesen Konflikt gerissen worden ist, und die ihre eigene Form der Therapie gefunden hat. Sie war zwölf Jahre alt, als sie verheiratet wurde, und mit zwanzig hatte sie bereits fünf Kinder, darunter einen Sohn, Javed. Bis zu dessen siebzehntem Lebensjahr hatte sie ihr Haus in Safaikadal, in einem ärmlichen Quartier von Srinagar, nie verlassen. Doch seit dem 18. August 1990 tut sie es beinahe täglich. An jenem Tag wurde Javed von einer Armeestreife verhaftet und mitgenommen. Das Verschwinden ihres Lieblingskindes änderte Parveenas Leben. Sie ging zu Behörden, sie suchte die Gefängnisse ab, zuerst in Srinagar, dann in ganz Kaschmir, schließlich reiste sie nach Delhi, Rajasthan, Benares, weil sie gehört hatte, dass Javed vielleicht dort inhaftiert sei. Als alle Spuren im Sand verliefen, ging sie vor Gericht.

Das erkannte ihren Fall an und lud den Offizier vor, der Javed verhaftet hatte. Doch das Innenministerium in Delhi verbot ihm die Zeugenaussage unter Verweis auf Sondergesetze, die Armeeangehörige vor Strafverfolgung weitgehend schützen. „Ich flehte die Armee an: ‚Gebt mir wenigstens seinen Leichnam oder ein Bild, so dass ich ihn in meinem Herz begraben kann‘ “ – vergebens. Doch statt in Depression zu sinken, fand sie ihre eigene Therapie. 1994 gründete sie die „Association of Parents of Disappeared Persons“ (APDP), die den Familien von Verschwundenen Rechtshilfe gibt. Am 15. und 30. jedes Monats kommen überall in Kaschmir APDP-Mitglieder zusammen, tauschen Informationen aus und machen sich vor allem gegenseitig Mut und Hoffnung. „Es hilft uns, den Boden unter den Füßen nicht ganz zu verlieren“, sagt die Gründerin. Den Mut können sie gut brauchen. Von den über 6.000 Fällen verschwundener Personen, die APDP bislang registriert hat, ist noch kein einziger gelöst worden – auch der von Javed nicht.

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