piwik no script img

Der große feierliche Reinfall

Romano Prodi sagt: „Der Saal atmet die Stimmung eines ersten Schultages“

aus Straßburg DANIELA WEINGÄRTNER

Die Requisiteure hatten ihre Sache gut gemacht. Sie hatten alles herangeschafft, was eine überzeugende Performance garantieren kann: Fahnen, eine Mundharmonika, kleine Stückchen ungarisch-österreichischen Stacheldrahts. Der Name des Stücks: „Großer feierlicher Augenblick“. Der Ort der Aufführung: Straßburg. Die Mitwirkenden: Gewählte Volksvertreter aus den Kandidatenländern sowie eine möglichst große Anzahl Europaabgeordneter.

Da der Regisseur früher sein Geld beim Fernsehen verdient hat, weiß er, wie wichtig Bilder sind. Deshalb steht der ehemalige Fernsehmoderator und derzeitige Präsident des Europaparlaments, der 49-jährige Ire Pat Cox an diesem Dienstagmorgen mit strahlendem Lächeln am Ende eines roten Teppichs. Als er die Parlamentarierdelegationen aus den Kandidatenländern begrüßt, leuchten 27 Flaggen im Hintergrund. Große Schilder weisen darauf hin, dass die Debatte in alle 23 Sprachen übersetzt wird.

Das ändert nichts daran, dass über die Flagge, die vorher weggeräumt wurde, am meisten geredet wird: die türkische. Das türkische Parlament wurde sich so kurz nach der Wahl nicht einig, wer nach Straßburg fahren soll. Das Vakuum hinterlässt erstaunlich deutliche Spuren, vor allem später in der Debatte, wann immer Zypern zur Sprache kommt.

Es ist nicht das Einzige, das an diesem Tag schief geht mit den Bildern, die in den Köpfen entstehen sollen und mit denen, die in die Wohnzimmer der künftigen EU-Bürger in Osteuropa, in Malta und Zypern geschickt werden.

Als sich am Morgen die ersten Gäste, die Gruppe der Bulgaren, ein paar Minuten früher als vorgesehen um halb acht am VIP-Eingang des Parlamentsgebäudes einfinden, ist niemand da. Keine Gastgeber, kein Personal. Die 17 Bulgaren stehen draußen in der Kälte und klopfen an die Scheibe, aber keiner lässt sie rein. Natürlich werden wenig später zwölf harmonische Familienfotos aufgenommen mit einem unverdrossen strahlenden Pat Cox und den jeweiligen Mitgliedern der Delegationen. Aber der Schnappschuss mit den vergebens bittenden Gestalten an der Scheibe ist einfach stärker.

Am Vortag lässt sich mit solchen unerwünschten Bildern ein ganzes Album füllen. „Wir haben fünf Stunden auf dem Flughafen auf eine Starterlaubnis gewartet“, sagt Helena Mallotová. Die Tschechin ist Abgeordnete der ODS, der euroskeptischen Partei ihres Landes. Sie und ihre Kollegen mussten sich als Entschuldigung anhören, der Straßburger Flughafen schwimme in einer Nebelsuppe. Mallotová fand schon diese Erklärung wenig überzeugend. Hätte sie erfahren, dass in Wahrheit Rehe auf der Landebahn spazierten, die man in dem dichten Nebel nicht aufspüren und verjagen konnte, hätte sie wohl an einen Scherz geglaubt.

Mallotová hat Sinn fürs Absurde. Kaum hat sie den eigentümlichen Zylinder betreten, in dem die Straßburger Abgeordnetenbüros untergebracht sind, fühlt sie sich zu einer Geschichte inspiriert: Eines Tages werde man einen Menschen im Untergeschoss des Parlaments entdecken, der dort während der Bauphase vergessen worden sei. Seither irre er umher, könne keine Ruhe finden, aber auch den Ausgang nicht – und das sei in diesem Kasten nun wirklich kein Wunder. Das Theaterstück, das bei dieser ersten Begegnung mit der Eurokratenwelt in Mallotovás Kopf entsteht, könnte von Kafka sein. Es heißt sicher nicht „Großer feierlicher Augenblick“.

Man muss nicht zu den Euroskeptikern zählen, um im Straßburger Parlamentsgebäude die Orientierung zu verlieren. Auch die von einer fürsorglichen Verwaltung angebrachten Zettel ändern nichts daran, dass überall verwirrte Fremdlinge durch die Gänge irren. Frauen mit sehr weiß gepuderten Gesichtern und sehr schwarz gefärbten Haaren und Männer mit abgewetzten Kunstledertaschen mühen sich, in die Geborgenheit ihrer Gruppe zurückzuschlüpfen.

Ein Sonderkommando von Hostessen in grauen Röcken versucht, die Neulinge daran zu hindern, die falschen Fahrstühle zu nehmen und sich in den geometrischen Figuren des postmodernen Baus zu verlieren. „Wie in einem Museum“, fühlt sich eine rumänische Delegierte – auch das kein Bild, an dem Pat Cox seine Freude hätte.

Außer den Hostessen, den Kellnern und Türstehern gibt es kaum jemanden, den die Neulinge nach dem Weg fragen könnten. Viele Abgeordnete sind wahrscheinlich im Nebel stecken geblieben. Aber auch am nächsten Tag, an dem der „Große feierliche Augenblick“ eigentlich dem Höhepunkt zustreben soll, weil zum ersten Mal bei einer Debatte Vertreter der neuen und der alten Mitglieder gemeinsam diskutieren, ist der Plenarsaal nicht einmal zur Hälfte besetzt.

„Wir können unser neues Europa nicht bauen, ohne die menschlichen Beziehungen zwischen uns aufzubauen“, sagt der Parlamentspräsident mit getragener Stimme zu den leeren Stühlen. „Der heutige Tag ist eine frühe Investition in kulturelle Vielfalt und eine Basis für persönliche Kontakte.“ Wenn man bedenkt, dass die Veranstaltung das Parlamentsbudget mit 500.000 Euro belastet, ist zumindest das Wort „Investition“ treffend. Es bleibt das Einzige.

„Today the dream has come true“, verkündete Ratspräsident Rasmussen in leichter Abwandlung von Martin Luther King. „Ich hoffe, dass wir zusammen eine klare Botschaft an die Völker und Regierungen Europas senden.“ Auch das nur ein frommer Wunsch, denn der dänische Trotzkopf Jens-Peter Bonde steht auf der Rednerliste. Er erklärt den Neuen: „Wenn ihr beitretet, wird der Vertrag, auf dessen Grundlage ihr verhandelt habt, gar nicht mehr in Kraft sein. An Dänemark und Irland kann man sehen, dass der Volkswillen der kleinen Länder in der Union nicht respektiert wird!“ Rechtspopulist Jean-Marie Le Pen macht die Sache nicht besser, als er ruft: „Landet nicht, von der Charybdis kommend, bei der Scylla. Patrioten Europas – lasst uns zusammenstehen!“ Da kommt es dann schon nicht mehr darauf an, dass auch Janusz Wojciechowski von der Polnischen Volkspartei der Nebelmetapher nicht widerstehen kann: „Straßburg konnte uns nicht annehmen, uns nicht landen lassen. Wir sind in Basel gelandet, außerhalb der Europäischen Union – ich hoffe, das hat keine symbolische Bedeutung.“

Da kann nicht einmal der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses gegen an, der auf dem Übersetzungskanal zwei auf Slowakisch als „Gospodin Brok“ vorgestellt wird. Oder Kommissionspräsident Prodi, der tapfer versichert, draußen sei zwar Herbst, doch „dank der Präsenz von mehr als 200 Abgeordneten aus den Beitrittsländern atmet dieser Saal die Stimmung eines ersten Schultages“.

Das Stück vom ersten Tag in der Eurokraten-Welt könnte von Kafka stammen

Beerdigung wäre richtiger. Das liegt zum einen daran, dass die Neuen fast nur Männer geschickt haben – und die tragen nun mal zu feierlichen Anlässen dunkle Anzüge. Aber auch die wenigen Frauen scheinen sich stillschweigend auf gedeckte Farben verständigt zu haben. Einen Farbtupfer steuert nur ein rumänischer Priester bei, der eine dunkelrote Schärpe trägt.

Da scheint es nur folgerichtig, dass der Vorsitzende der größten Fraktion, der Europäischen Volkspartei, Hans-Gert Poettering, seine Rede mit dem Grab von Jan Palach, dem Märtyrer des Präger Frühlings, beginnt. Dann zieht er ein Stückchen ungarisch-österreichischen Stacheldraht aus der Tasche. Poettering spricht von Jerzy Popieluszko, Lech Wałesa und – wieder mal – dem Papst. Aber der Saal ist so riesig und leer, das Stückchen Stacheldraht, das am Abend vorher „mein Freund Jozsef Szajer“ von der Ungarischen Bürgerpartei überreicht hat, so winzig klein, dass nichts zu sehen ist als ein großer lächelnder Mann, der seinen Arm in einer pantomimischen Geste nach oben hält.

Poetterings Partei wird nach der Erweiterung wahrscheinlich mehr Sitze im Europaparlament verbuchen können. Doch sicher ist auch das nicht. Bei vielen Delegationsmitgliedern stehen in der Veranstaltungsbroschüre in der Rubrik „Parteizugehörigkeit“ drei Fragezeichen.

Während der zwei Tage sind die Neulinge bei einer Fraktion zu Gast. Helena Mallotovás „Demokratische Bürgerpartei“ hat sich aufgeteilt. Drei Delegierte sind zu einer Euroskeptiker-Partei gegangen, sie selber ist mit dem Ex-Ministerpräsidenten Václav Klaus und einem Kollegen vom Senat bei den Konservativen gelandet. So kommt sie immerhin in den Genuss, beim bunten Abend der EVP den slowenischen Politiker Lojze Peterle auf der Mundharmonika den „Song of Joy“ spielen zu hören. Und sie trifft den kleinen, dicken Bernd Posselt, der in der konservativen Fraktion unermüdlich die Fahne der Sudetendeutschen hochhält. Tschechien hat inzwischen schwarz auf weiß in drei getrennten Gutachten, dass die Beneš-Dekrete kein Hindernis für den Beitritt darstellen. Die Sudetendeutschen haben aber ein viertes in Auftrag gegeben, das natürlich zu einem anderen Ergebnis kommt. Als Posselt der Mallotová einen Teller mit Schnittchen hinhält, lächelt sie sarkastisch: „Die Schnittchen nehm ich von dem – aber sonst nichts!“

Eine positive Würdigung des Theaterstücks, das als Hochzeitsszene geplant war und wie ein Leichenschmaus daherkam, dürfte sogar dem unverbesserlichen Optimisten Pat Cox schwer fallen. Immerhin ist der befürchtete Sprachensalat ausgeblieben. Die Übersetzung aus 23 Sprachen in 23 Sprachen hat reibungslos geklappt. Und eine veritable Kaiserliche Hoheit auf der Tribüne hat den „Großen feierlichen Augenblick“ mit seiner Anwesenheit gekrönt: Otto von Habsburg, Sohn des letzten österreichischen Kaisers und selbst 20 Jahre lang Abgeordneter im Europaparlament. Der 90-Jährige bestand seinerzeit darauf, dass im Plenum stets ein Sitz symbolisch für die Osteuropäer freigehalten werden muss. Dass an dem Tag, an dem sie wirklich Einzug halten, so viele Plätze leer bleiben würden, hätte er sich wohl nicht träumen lassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen