: Beruhigungspille für besorgte Eltern
Immer, wenn die Shell-Jugendstudie erscheint, ist das Land erschüttert über „die Jugend“. Der Erinnerungsband zum 50. Geburtstag der Studie zeigt: Das Imageprodukt für Shell ist dazu da, die Angst der Eltern vor ihren Kindern zu dämpfen
von HEIDE OESTREICH
„Die Jugendlichen stampfen mit ihren Absätzen auf den Tanzboden, als ob sie den Rücken eines besiegten Feindes treten. Und ich werde den Verdacht nicht los, dass wir es sind, die sie treten.“ Ein anonymes Zitat eines Erwachsenen aus den 60er-Jahren. Als Bill Haley den Rock in Deutschland rollen ließ, hatten Eltern einiges zu verkraften, zugegeben. Aber nicht nur in den 60ern, sondern auch in den übrigen 50 Jahren ihres Bestehens war die Shell-Jugendstudie eins: Beruhigungspille für besorgte Erwachsene. Und nebenbei das gelungenste Imageprodukt, das eine Ölfirma sich ausdenken konnte. Gestern feierte Shell „50 Jahre Shell-Jugendstudie“.
Die auffälligste Kontinuität unter den Entdeckungen der Jugendforscher: In jeder der 14 Studien konnten sie kopftätschelnd feststellen: Die Jugend ist gar nicht so schlimm. Nur die Elternsorgen waren stets andere.
In den 50ern fragte man sich bang, was die Nazi-Pädagogik wohl mit den Kindern angestellt habe – Marke: Was denkt das unbekannte Wesen? Mit Entstehen von Jugendkultur und Freizeitindustrie ging es eher darum, verwertungsorientierten Medienbildern die viel langweiligere Realität entgegenzuhalten. Regelmäßig kehrt die repräsentativ belegte Beruhigungsfloskel wieder: Die Halbstarken, die Rocker, die APO-Studenten, die Anarchisten, die Punks, die AKW-Gegner, selbst die Feministinnen seien nur eine „qualifizierte Minderheit“. Die trage zwar den Zeitgeist oder die Grundstimmung ihrer jeweiligen Generation. Die Masse der Teens und Twens aber bleibe: harmlos.
Der Sedierungsduktus geht so weit, dass laut Shell die 68er nur deshalb die Nation in Unruhe stürzen konnten, weil die jungen „Revoluzzer“ die „telegene Selbstinszenierung“ beherrscht hätten. Und heute? Die Globalisierungsgegner um Attac, immerhin die schnellstwachsende NGO der letzten zehn Jahre, tauchen in der letzten Ausgabe gar nicht auf. „Überschätzt“, so das kühle Urteil der Forscher. Nur eine Zahl im Promillebereich würde diese „urtümliche Form des militanten Jugendprotestes“ noch pflegen. Die Masse verhalte sich zur Politik heute ironisch.
Nicht gefährlich, aber einflussreich sind diese Minderheiten dann allerdings auch bei Shell: Immer wieder stellen die Studien massive Veränderungen fest: das Durchstarten der Mädels etwa. Oder Mitte der 70er: Da wird der autoritäre Erziehungsstil abgelöst. Vorbilder werden unwichtiger, das Selbst der Jugendlichen wichtiger. Die Auswirkungen spürt heute gar die Jugendindustrie – sie kann nicht mehr auf die finanzielle Zugkraft des Starkultes zählen.
Die Konsumorientierung der Teenies freilich bleibt – sogar der 80er-Hit „Jute statt Plastik“ muss gekauft werden. Und auch das ist bei Shell immer gleich: Die Jugend ist – bis auf qualifizierte Minderheiten natürlich – unpolitisch. Heute ist sie es gerade mal ein bisschen mehr. Aber wo käme die Shell-Jugendstudie hin, wenn man sich über die Jugend keine Sorgen mehr machen müsste!
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