: „Schwule altern schneller“
Claus Nachtwey, Senatsreferent für gleichgeschlechtliche Lebensweisen, sieht die Altenbetreuung nicht auf die Bedürfnisse von Schwulen und Lesben vorbereitet. Ein Kongress will Abhilfe schaffen
Interview WALTRAUD SCHWAB
taz: Herr Nachtwey, Sie haben eine Fachtagung zum Thema „Anders sein und älter werden – Lesben und Schwule im Alter“ organisiert – warum?
Claus Nachtwey: Viele alte lesbische Frauen und schwule Männer führen ein soziales Doppelleben. In den Institutionen der Altenhilfe geben sie sich nicht zu erkennen, weil sie Angst vor Ausgrenzung haben aufgrund ihrer sexuellen Identität. Auf der anderen Seite wird die Altenhilfe der Lebenssituation dieser Zielgruppe deshalb nicht gerecht, weil sie auf eine Nachfrage wartet, die aber nicht kommt. Mit der Tagung sollen Alternativen aufgezeigt werden, die von Betroffenen erarbeitet werden.
Im Vorfeld haben Sie eine Studie zum Thema in Auftrag gegeben. Darin wird festgestellt: „Schwule altern schneller im Sinne von sozialem Altern“. Was bedeutet das?
Die meisten Lesben und Schwulen finden erst später ihre sexuelle Identität. Im Durchschnitt mit Mitte 20. Wenn sie 35 bis 40 Jahre alt sind, ziehen sie sich jedoch meist bereits wieder aus der Szene heraus. Sie kommen früher in einen Lebensabschnitt, in dem sie merken, dass sie nicht mehr jung sind, und sich fragen, was will ich eigentlich erreichen? Ein normaler Familienvater wird in diesem Sinne erst alt, wenn die Kinder aus dem Haus sind.
Was folgern Sie daraus?
Es müssen Alternativen entwickelt werden, die diesen spezifischen Erfahrungen von älteren Schwulen gerecht werden.
Warum ist das plötzlich ein Thema?
Es passiert auf einem geschichtlichen Hintergrund: Die, die sich heute Gedanken machen, gehören zur ersten Generation, die von Anfang an schwul sein durfte. Es ist die erste Generation, die sich nicht in dem Maße verfolgt fühlen muss, wie es die Generationen waren, die im Dritten Reich oder in der Adenauer-Ära lebten. Die, die in den letzten Jahren gleiche Rechte für Schwule und Lesben gefordert haben, wollen dies jetzt in der Seniorenpolitik. Sie sind selbst älter geworden.
Rosa Panter also?
Selbstbewusste alte Schwule und Lesben.
Die vor 30 Jahren auf die Barrikaden gegangen sind, tun es jetzt auch?
Festzustellen ist: Die, die heute in der Szene politisch aktiv sind, sind nicht in erster Linie die Jungen, sondern die, die auch in den 70er-Jahren für ihre Rechte gekämpft haben. Die ganz Alten aber sind aufgefordert, den Jüngeren ihre Geschichte aus der Vergangenheit zu erzählen, um der gegenwärtigen Generation klar zu machen, was sie erlitten haben und worauf es ankommt.
Berlin beschäftigt sich seit Jahren mit allen Facetten von Homosexualität. Geht es bei Lesben und Schwulen im Alter nun um die Definition einer neuen Minderheit?
Es ist ein Teil einer Minderheit. Jener der Lesben und Schwulen. Bei der derzeitigen demografischen Entwicklung ist sie allerdings bald keine Minderheit in der Minderheit mehr. Sich damit zu beschäftigen ist eine Notwendigkeit. Wir können ja nicht so tun, als ob aus lesbisch/schwuler Sicht alles in Ordnung sei im Pflege- und Seniorenbereich.
Sind die Unterschiede für Heterosexuelle und Homosexuelle im Alter so gravierend?
Ja. Wir wissen, dass in der Pflege nicht von Homosexualität gesprochen wird. Es bedarf besonderer Sensibilität, wenn Lesben und Schwule gepflegt werden.
Über Sexualität wird in der Altenpflege generell nicht gesprochen.
Es mag insgesamt ein Mangel sein. Tabuisiert aber wird, wenn beispielsweise ein Schwuler von einem Pfleger gewaschen wird und dabei eine Erektion bekommt. Die Ausbildung muss auf solche Situationen vorbereiten. Es kann nicht sein, dass es nur zu Verunsicherung führt, als peinlich empfunden wird, die Schamgrenzen beider Beteiligter verletzt oder gar zu Ausgrenzung des Gepflegten führt.
Welche Fragestellungen stehen demnach bei der Tagung im Vordergrund?
Einerseits die Bedürfnisse der Homosexuellen, andererseits die Sensibilisierung für das Problem. Es werden Modellprojekte vorgestellt und Handlungsalternativen aufzeigt. Partnerschaften, Wahlfamilien, Coming-out bei Alten, Sex im Alter sind die Themen der Tagung.
Welche Ergebnisse erwarten Sie?
Anregungen für Institutionen und Verbände, die im Seniorenbereich tätig sind. Es ist eine Fachtagung; Verbände, Seniorenheime, Verwaltung, Politik sind Zielgruppen. 200 TeilnehmerInnen haben sich angemeldet. Wir sind ausgebucht.
Was muss für Lesben und Schwule im Alter unbedingt geändert werden?
Es muss umfassend eine gewisse Sensibilität und Akzeptanz für diese Gruppe gefunden werden. Homosexualität ist nicht nur ein Jugendkult.
Wie wird das finanziert?
In erster Linie muss das nicht unbedingt was kosten. Curricula in der Pflegeschulung zu ändern, verursacht keine Mehrkosten. Im Seniorenwohnbereich kann man alternativ lesbische und schwule Wohnbereiche einrichten. Die Ressourcen sind vorhanden.
Fotohinweis: CLAUS NACHTWEY ist Referent für gleichgeschlechtliche Lebensweisen bei der Senatsverwaltung für Bildung
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