: Mit Gefühl über den Damm
Besuch bei einer freien Hebamme
von GABRIELE GÖTTLE
„Denn wo das harte Eisen lieget, kann meine gelinde Hand liegen, die dergleichen Schmerzen nicht verursachen kann.“ Justine Siegmundin (1690), Hofwehmutter
Beate Rosendahl, selbstständige Hebamme, Mitglied d. Hebammengemeinschaft „Geburtshaus a. Klausenerplatz“ i. Berlin-Charlottenburg. 1969 Einschulung i. d. Walter-Gropius-Gesamtschule Berlin, 1981 Abschluss daselbst m. d. Abitur. 1982–1983 freiwilliges Soziales Jahr b. d. Caritas. 1983–1986 Berufsausbildung z. Hebamme a. d. Universitätsklinik i. Marburg/Lahn. 1986–1989 Arbeit als Hebamme i. Kreiskrankenhaus Northeim/Nieders., i. Nebentätigkeit Wochenbettbetreuung. 1989–1990 Hebamme i. ev. Waldkrankenhaus/Berlin. Seit Februar 1990 Hebamme i. Geburtshaus Berl./Charl.: Außerklinische Geburtshilfe, Schwangerenvorsorge, Wochenbettbetreuung, Leitung v. Geburtsvorbereitungskursen u. Rückbildungsgymnastik. 1995–1998 Studium Pflegemanagement Alice-Salomon-Fachhochsch. f. sozialpäd./Bln. Vor d. Vordipl. abgebrochen (wg. Unlust). 1998–2001 berufsbegleitende Ausbildung zur Yogalehrerin. 2001 Weiterbildung z. Stillbeauftragten (Fachkraft f. Stillförderung). Seit 2000 hauptsächlich i. Organisationsteam f. d. Geburtshaus tätig (an Stelle d. geburtshilflichen Tätigkeit). Frau Rosendahl wurde am 3. 7. 1963 in Berlin geboren. Der Beruf d. Mutter war früher Religionslehrerin, dann Jugendbetreuerin. Der Vater war Maschinenbauingenieur bei Siemens. Frau R. lebt mit ihrem Freund zusammen, ist ledig und hat keine Kinder.
Die Hebammenkunst ist viele Jahrtausende alt und gründete sich auf Erfahrungswissen, das wohl gehütet und oral an die Schülerinnen weitergegeben wurde. Es war zentraler Bestandteil von Ritualen und Bräuchen der weiblichen Heilkunde. Ärzte hingegen tauchen erst seit etwa zweieinhalb Jahrhunderten bei der Geburt auf, und auch das in der Regel nur im Bedarfsfalle. Der akademisch ausgebildete Gynäkologe und Geburtshelfer als Mann der Praxis ist überhaupt erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts üblich. Dennoch ist unsere gesamte Geschichtsschreibung zur Geburtshilfe eine absolut medizinhistorische. Das liegt einerseits daran, dass die Hebammen, als reine Empirikerinnen, bis weit in die Neuzeit hinein keinerlei Lehrschriften verfassten, andererseits aber liegt die Hauptursache in der Art und Weise, wie sich die Enteignung des Hebammenwissens vollzogen hat. Der Prozess verlief allmählich, und der wissenschaftliche Fortschritt verdeckt den Blick auf die Vorgehensweise. Bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts hatten die Hebammen noch die alleinige Kontrolle und Oberaufsicht über ihre Tätigkeit, zu der ihr gesamtes geburtshilfliches Wissen und Können gehörte, inklusive der Kenntnis heilender, narkotisierender, schwangerschaftsverhütender – und abtreibender Mittel.
Besonders Letztere unterwarf sie in der Zeit der Hexenverfolgung (Höhepunkt zwischen 1560 und 1630) dem Verdacht der Ketzerei und Hexerei und brachte vielen Hebammen den Tod auf dem Scheiterhaufen. Die Kampfansage von Kirche und Staat gegen die selbstbestimmte Reproduktion und Verminderung der Untertanen zielte ganz unmittelbar auf die Reglementierung des freizügigen Hebammenwesens. Die Hebammen wurden unter die Aufsicht des Stadtarztes gestellt, er übernahm Kontrolle und Prüfung ihrer Tätigkeit. Eine „Hebammenordnung“, geregelt durch die Kirchenordnung, schrieb der nunmehr „geschworenen“ Hebamme ihr Tun und Lassen vor. Untersagt wurde jedes innere und äußere Kurieren und die Verabreichung betäubender Mittel. Die Papstbulle von 1588 stellte flankierend nicht nur die Abtreibung unter Todesstrafe, sondern auch die Empfängnisverhütung.
Parallel dazu erschienen im 16. Jahrhundert die ersten Hebammenbücher akademischer Ärzte, die anfangs noch stark am antiken Wissen über Geburtshilfe orientiert waren, dann aber mehr und mehr das Hebammenwissen übernahmen (zu dessen Preisgabe jene per Eid verpflichtet wurden). Das ist der Moment in der Geschichte, der den Übergang des traditionellen Hebammenwissens in die ärztliche Kunst der Geburtshilfe markiert, seine Verwandlung in eine theoretische Wissenschaft, ohne Nennung der Quellen (bis auf Paracelsus). Dieses Wissen, das den Ärzten eben noch unbekannt war, unter den Hebammen hingegen seit Jahrtausenden bekannt, wurde den Hebammen von nun an als Lehrbuch vorgelegt und zur Pflichtlektüre gemacht für eine Professionalisierung des Hebammenberufes. Ein langer, nie beendeter Kampf zwischen Ärzten und Hebammen begann und zugleich eine einschneidende Veränderung im Umgang mit dem gebärenden weiblichen Körper: Die am Tastsinn geschulte Hebammenkunst, die ganz besonders eine Praxis des Fühlens (Greifens und Begreifens) war, wandelte sich unter den männlichen Geburtshelfern zu einer Augenangelegenheit, zu einer vorwiegend optisch und vor allem technisch-instrumentell orientierten Geburtshilfe. Instrumente aus Eisen wie Haken, Hebel und vor allem die neu erfundene Geburtszange, wurden virtuos gehandhabt und massenhaft experimentell eingesetzt – wissenschaftlich untermauert durch Anatomie und Autopsie, durch die Theorie des „engen Beckens“, durch die Ausweitung des pathologischen Befundes. Die Instrumente wurden zu Insignien der zunehmenden Macht und Überlegenheit, gegen die sich um 1750 vor allem englische Hebammen erfolglos zur Wehr setzten. Man hielt ihnen entgegen, die Hebammen hätten jahrtausendelang Zeit gehabt, ihr Fach zu einer Wissenschaft zu machen. Dass eben gerade diese Vorstellung ihren Erfahrungen vollkommen zuwiderlief, zeigen auch die wenigen von Hebammen geschriebenen Lehrbücher, die ganz am Praktischen, Naheliegenden orientiert sind; ihre Kunst war die Mäeutik.
Diese Grundmuster und Grundkonflikte berühren die Geburtshilfe bis heute, ins 21. Jahrhundert hinein und liegen nur notdürftig verdeckt unter den Segnungen von Narkose, Antiseptik, Antibiotika, von moderner Hightechmedizin und Rundumüberwachung. Es ist die bittere Ironie der Geschichte, dass die deutschen Hebammen ihre heutigen Emanzipationsmöglichkeiten ausgerechnet der Nazi-Gesetzgebung zu „verdanken“ haben. 1938 wurde mit der Erlassung des Reichshebammengesetzes zugleich auch die „Zuziehungspflicht“ festgelegt. Keine Entbindung ohne Hebamme. Der Arzt muss eine Hebamme hinzuziehen, die Hebamme hingegen nicht den Arzt. (Die Mutter des höchsten Reichsmedizinalbeamten war Hebamme, sie setzte auch die Wiedereinführung der Hausgeburt durch, was dem Interesse an einer Streichung und dann im Kriege anderweitigen Belegung der Betten aufs passendste entgegenkam. Das Gesetz war im Westen bis 1985 gültig, dann sollte unter anderem auch die „Zuziehungspflicht“ gestrichen werden, diese blieb aber auf Protest der Hebammen erhalten.) Nach dem Kriege gingen die beiden deutschen Staaten auch in der Geburtshilfe erst einmal getrennte Wege: Die DDR schaffte die faschistischen Regelungen ab und damit Hausgeburt und freie Hebamme. Sie wurde der Hauptverantwortlichkeit des Arztes unterstellt. In der BRD hingegen war bis Anfang der Sechzigerjahre Hausgeburt in den ärmeren Schichten durchaus üblich. Erst mit der Kostenübernahme durch die Krankenkassen begann der Boom der Klinikgeburten, der technischen Aufrüstung der Kreißsäle, die Anwendung operativer Eingriffe als geburtsbegleitende normale Maßnahme. Bald näherte man sich der 90-prozentigen Dammschnittrate der DDR an; hier wie dort indikationslos, rein präventiv, zur Verkürzung der Geburtszeit.
Mitte der Siebzigerjahre trat die im Westen entstandene Frauenbewegung vehement für das Recht auf Abtreibung ein (am Kinderkriegen war man eigentlich weniger interessiert, angesichts der Umstände), die Geschichte der Frauenunterdrückung wurde untersucht. Die Thematik war allgegenwärtig und sensibilisierte auch die Allgemeinheit. 1982 gründete sich in Berlin eine Kontakt- und Beratungsstelle, ein Verein für das Recht auf eine selbstbestimmte Geburt. 1987, motiviert auch durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, gründeten engagierte Hebammen dieses Vereins das erste „Geburtshaus“ in Deutschland, am Klausenerplatz in Berlin. Inzwischen sind dort 3.000 Kinder geboren worden, eine gleichberechtigte Hebammengemeinschaft von heute zehn Frauen kümmert sich um Schwangerschaft und Geburt der selbstbestimmten Art. In ganz Deutschland gibt es momentan fünfzig Geburtshäuser, fünf davon in Berlin.
Wir sind mit der Hebamme Beate Rosendahl verabredet. Sie wohnt am Klausenerplatz, nahe am „Geburtshaus“. Ihre Wohnung liegt im Hinterhaus-Seitenflügel. Im Innenhof hat der Hauswart ein kleines Bassin angelegt mit Springbrunnen. Frau Rosendahl erwartet uns bereits, umschnurrt von einer dunkel getigerten Katze. Die Wohnung hat einen eigenen Eingang vom Hof her, Parterre befindet sich das Zimmer des Freundes, Bad, WC, über eine Holztreppe erreicht man die oberen Räume, eine offene kleine Küche, ein Wohnzimmer und das Zimmer von Frau Rosendahl. Wir werden ins Wohnzimmer gebeten, wo bereits ein Kaffeetisch gedeckt ist, es setzen sich aber alle an ein Tischchen mit Korbstühlen, weil es bequemer so ist. Auf dem Sofa liegt ein künstliches Zebrafell, auch die Kissen sind mit diesem Material bezogen, eine Lampe trägt das Muster. Die übrige Einrichtung eher konventionell: ein großer alter Schrank mit Glastüren dominiert an der hinteren Wand, Bücherregale, Fernsehgerät, ein angenehm altmodisches Musikregal mit Plattenspieler und Platten steht bereit, an der Wand eine Dünenlandschaft, sehr grafisch, ein anderes Bild zeigt Mohnblumen. Den Platz am Fenster teilen sich eine schöne alte Kommode, ein zartes hohes Gewächs und ein dreistöckiges, plüschverkleidetes Katzenhäuschen. Der Freund, so war es besprochen, wird anwesend sein. Er ist Sozialarbeiter, groß, schlank, hat das lange Haar hinten zusammengebunden und trägt die Spitzen seines Bartes zu je einem Kringel gezwirbelt. Sehr zuvorkommend kümmert er sich um den Kaffee, ums Nachfüllen unserer Tassen.
Frau Rosendahl legt ihre zarten, kühlen Hände ineinander und sagt: „Das Hebammenberufsfeld ist ja unheimlich groß, und davon ist die Geburtshilfe an sich das Herzstück, aber für mich fängt es schon in der Schwangerschaft an, mit Vorbereitung, Beratung und Untersuchung. Und dann natürlich im Wochenbett die Betreuung, also falls die Frauen Milchstau haben, Fieber bekommen oder Brustentzündung, ja, und später geht’s dann darum, ob die Milch reicht, was und wie soll zugefüttert werden. Wir machen Rückbildungskurse, also man kann sich viel überlegen, es geht ja im Prinzip darum, dass das ein positives Erlebnis wird. Und ich glaube, wir kriegen das hin im Geburtshaus. Ich bin fast dreizehn Jahre jetzt da, und es ist schon ein großer Unterschied zum Krankenhaus. Ich habe ja vorher drei Jahre im Krankenhaus die Ausbildung gemacht und dann noch mal vier Jahre in zwei verschiedenen Krankenhäusern gearbeitet, und da hat es mir dann wirklich irgendwann richtig gereicht! Ich fühlte mich nicht wohl, es störte mich immer mehr die beschränkte Kompetenz, die strenge Hierarchie auch und dass ich mich auf drei Frauen gleichzeitig aufteilen sollte. Das ist ja keine optimale Betreuung mehr. Was mich aber besonders gestört hat, war, dass ich beistehe bei Sachen, die ich brutal finde, das hat mir alles vergällt. Ich kam mir wirklich oft wie eine Verräterin vor. Eine Zeit lang war ich so frustriert, dass ich dachte, ich höre lieber ganz auf. Und dann bin ich einfach mal ins Geburtshaus, wollte mir das anschauen, die hatten eine Stelle freigehabt, zufällig, ich habe mich beworben und wurde genommen. Das war im Februar 1990. Nach einem Monat Einarbeitungszeit, wo ich eben nur so mitgelaufen bin, hatte ich meine erste Geburt. Die hat unglaublich lang gedauert, zwölf Stunden mindestens. Zwei Empfindungen hatte ich dabei: Nach einer langen Nacht habe ich morgens gedacht – im Krankenhaus könntest du jetzt nach Hause gehen … Und die zweite Empfindung war toll: Es geht, dass einfach mit Geduld, normal und spontan, das Kind geboren ist! Ich hatte bisher nur Geburten in Rückenlage erlebt, die ja fürs klinische Personal günstiger ist, aber fürs Gebären nicht, und diese war in Hockstellung, ich musste es nur auffangen, das Kind. Da habe ich mich aber doch etwas erschrocken, es wog über fünf Kilo.“
Wir schlagen vor, uns kurz eine typische Geburtshausgeburt zu schildern und dann vielleicht dazu den Vergleich zum Krankenhaus verständlich zu machen. „Also ich muss dazu sagen, im Moment betreue ich aktuell keine Geburten, sondern kümmere mich um organisatorische Sachen, aber ich habe das ja elf Jahre gemacht.“ Sie erhebt sich und bringt aus dem Nebenzimmer ihre zwei Hebammentaschen, eine große, geräumige aus schwarzem Leder, eine kleinere aus braunem. In der großen Tasche befindet sich alles für die Hausgeburt nötige, vom hölzernen Höhrrohr (dem typischen Hebammeninstrument) bis hin zu einer Taschenkinderwaage. Im kleinen Köfferchen für die Vorsorgeuntersuchungen ist alles Notwendige drin, vom Maßband bis zum Urinteststreifen. „Notfälle sind also wirklich selten, aber wenn, da muss man dann in der Lage sein, zu handeln, den Beatmungsbeutel habe ich einer Kollegin gegeben …“ – „Und den Sauerstoff“, sagt der Freund. „Ja …“, fährt sie fort, „wenn dann also mein ‚Pieper‘ klingelt, dann fahre ich zu der Frau, untersuche sie vaginal, guck, ob der Muttermund anfängt, sich zu öffnen, was ja ein gutes Zeichen ist, höre an den Herztönen, wie es ihm geht mit den Wehen. Ich verabschiede mich, und wenn es später stärker wird, treffen wir uns im Geburtshaus wieder, wo übrigens immer zwei Hebammen anwesend sind für alle Fälle. Bei uns können die Gebärenden alles durchprobieren, also die legen sich nicht fest. 45 Prozent der Geburtshaus-Kinder werden im Hocken, 31 Prozent in der Vierfüßlerstellung und nur 8 Prozent in Rückenlage geboren. Viele haben ja den Wunsch und sagen, sie möchten eine Wassergeburt, und das ist auch eine sehr gute Methode. Bei uns gibt es ja kein Gerangel um die Wanne, wie im Krankenhaus. Ich bin dann in der Regel immer schon ein bisschen früher da, um die Räume etwas vorzubereiten, manchmal mache ich schon mal gerne eine Kerze an. Und wenn die Frau dann kommt – in der Regel ist ihr Partner dabei oder sonst jemand, es kommt eigentlich nie jemand alleine –, dann wird der Raum ausgewählt und wir beziehen zusammen das Bett, denn nach der Geburt legen sich ja alle Frauen noch mal hin und ruhen sich aus. Nachdem wir dann so ein Aufnahme-CTG gemacht haben, damit wir einfach noch mal eine Kurve auch dokumentieren, kann die Frau, wenn alle Räume frei sind, herumlaufen, auch zwischendurch mal ins Wasser gehen, wonach ihr gerade ist.
Als Hebamme muss ich ja mehrere Rollen gleichzeitig übernehmen, als diejenige, die sagt, was zu machen ist, die streichelt, Mut zuspricht oder manchmal auch unliebsame Maßnahmen durchsetzen muss, wenn ich beispielsweise möchte, dass die Frau aufsteht, weil ich das Gefühl habe, sie schont sich zu sehr, dann muss ich das Jammern auch mal ein bisschen überhören. Das alles zu vereinbaren, ist manchmal nicht leicht. In der Regel bin ich aber einfach nur da, versuche möglichst gar nicht zu intervenieren, beziehungsweise ich arbeite mit Homöopathie und Massagen – andere von uns haben sich auf die Akupunktur verlegt –, manchmal ist es einfach so, dass ich der Frau Tipps gebe, sie motiviere oder einfach nur mit ihr atme. Meine Aufgabe ist dann ja auch, zu sehen, gibt es einen Geburtsfortschritt? Beim ersten Kind sind über zwölf Stunden ganz normal und es gibt überhaupt keinen Grund zu drängen, solange der Geburtsverlauf in Ordnung ist. Es gibt aber auch Situationen – und die muss ich sehr genau einschätzen können – wo es besser ist, die Geburt im Krankenhaus zu beenden, weil Komplikationen auftreten. Das ist, sag ich mal, nicht so selten. Unser Geburtshaus hat eine Verlegungsrate von 17 bis 18 Prozent, was aber heißt, es entspricht im Grunde dem, was als normal gilt: Man sagt, circa 80 Prozent der Geburten sind normal. Jetzt wieder zu unserer Frau im Geburtshaus: Wenn nun also das Kind kommt, ziehen sich die meisten unten rum ganz aus, und da ist es dann ehrlich gesagt, im Unterschied zum Krankenhaus, bei uns sehr angenehm, dass die Intimsphäre gewahrt werden kann. Um sich zu öffnen, muss man sich auch sicher fühlen. manche Frauen haben ja während der Presswehen dann Stuhlgang, was ja ganz normal ist, aber vielen ist das superpeinlich. Ich mache das weg und beruhige sie. Also sie ist jetzt in der Austreibungsphase – die Hauptzeit macht die Eröffnungsphase aus, wo also der Muttermund sich öffnet, und die Austreibungsphase ist so ein Drittel der Zeit, etwas weniger, oft nur ein bis zwei Stunden. Dann wird zuerst das Köpfchen geboren, das Kind macht ja eine Einvierteldrehung im Laufe der Geburt, das liegt an der Beckenform, und die gleiche Drehung macht es dann wieder zurück, es schraubt sich eigentlich heraus, phasenweise. Ich leite das mit an, wärme den Damm mit einem heißen Tuch, erzähle, was ich sehe, fühle. Motiviere, dass die Frau auch mal selber fühlt, dass wir einen Spiegel hinhalten, wenn sie möchte … viele sehen auch mal selber nach mit ihren Händen, ich bin einfach da, habe auch meine Sachen schon zurechtgelegt, das Geburtsbesteck, Nabelschere und, für den Fall der Fälle, eine Dammschnittschere, wobei ich die recht selten nur brauche. Und dann gibt’s einen Moment, da weiß ich, jetzt kommt es wirklich gleich, das ist der Moment, wo man so ein bisschen bremsen muss, damit es langsam kommt. Ich sorge also dafür, dass das Kind mit Gefühl über den Damm kommt und wie von alleine in meine Hand hineingleitet.
Danach legt sich die Mutter hin und lagert ihr Kind bequem auf dem Bauch, die Nabelschnur reicht meistens bis genau zum Busen, also es herrscht keine Eile, die Nabelschnur jetzt schon abzumachen. So gewöhnen sich die Kinder ans Atmen in aller Ruhe. Wir lassen im Geburtshaus bei uns die Nabelschnur auspulsieren. Ich fasse sie an und fühle den Puls, es dauert so etwa zwanzig Minuten, dann kollabieren die Gefäße. Das Abschneiden ist ja so ein symbolischer Akt, oft machen das die Partner, und dann atmet das Kind wirklich ganz alleine. Danach wird die Placenta geboren in der Regel, ich untersuche sie und schmeiße sie dann einfach in den Müll – das ist erlaubt, ja –, also wir geben sie nicht für Forschungszwecke weg. Manche Leute nehmen sie auch mit nach Hause, pflanzen sie zusammen mit einem Bäumchen ein, so als Lebenssymbol. Manche – aber ich weiß auch nicht, wie das geht –möchten sie auch trocknen und pulverisieren, das ist dann ein Notfallmedikament für Mutter und Kind bei schweren Krankheiten. Ich kenne das nur vom Hören, ebenso, dass wenn eine nach der Geburt stark blutende Frau ein winziges Stück ihrer Plazenta isst, das ihre Blutung zum Stillstand bringen würde. Also das habe ich von einer Hebamme gehört, die es angewendet hat. Ich hab’s noch nie probiert. Jedenfalls, das Kind liegt auf dem Bauch der Mutter und nach etwa einer dreiviertel Stunde bekommt es den ersten Hunger, der Such- und Saugreflex meldet sich und die Frauen legen sich dann das Kind selbst an, oder wir helfen dabei, und dann ist eben noch eventuell eine Dammversorgung zu machen, also kleinere Verletzungen an den Schamlippen, ein Dammriss, das kommt immer mal vor, etwa zu 30 Prozent bei Erstgebärenden, das nähen wir dann, bei örtlicher Betäubung natürlich, und danach untersuchen wir die Kinder gründlich, wiegen, messen sie, unter einer nicht blendenden Wärmelampe. So etwa drei bis vier Stunden nach der Geburt gehen die Eltern mit ihrem Kind in der Regel nach Hause, und ich muss noch mal so drei Stunden dazu addieren, die ich hinterher noch brauche fürs Aufräumen und Papiereschreiben.“
Frau Rosendahl macht eine kleine Pause und fährt dann in ihrer ruhigen Art fort: „Also zu der Zeit, als das Geburtshaus entstand, da war die Krankenhausgeburt noch das genaue Gegenteil, inzwischen, vielleicht auch durch die Wende bedingt und die schärfere Konkurrenz, wurden viele Möglichkeiten, die im Geburtshaus Standard sind, übernommen, jedes Krankenhaus, das auf sich hält und auch die Geburtszahlen halten will, hat heute eine Wassergeburtsmöglichkeit zum Beispiel, die Kreißsäle und Geburtsbetten sind freundlicher geworden, aber hinter den vielen äußeren Veränderungen hat sich an der eigentlichen Haltung zur Geburt relativ wenig geändert. Also für uns ist die Geburt etwas Normales. Sofern die Frau und das Kind gesund sind, schaffen sie es von alleine. Wir Hebammen sind Expertinnen für diese normale Geburt. Im Krankenhaus ist die Haltung erst mal die: Wir machen das schon für sie! Es gibt Richtlinien, Schemata – Kanüle legen, Einlauf, Rasur – und dann wird die ganze Apparatur eingesetzt, viel zu schnell wird ein Wehentropf angehängt zur Beschleunigung, zu 50 Prozent mindestens wird Periduralanästhesie gemacht, also die so genannte Rückenmarkspritze, die von der Taille abwärts das Schmerzempfinden lähmt. Das ganze Gefühl für den Unterleib geht dabei verloren. Den Frauen wird keinerlei Mut zugetraut, statt Selbstvertrauen fassen sie Vertrauen in den medizinischen Eingriff. Viele Frauen möchten einfach natürlich und spontan gebären, und sie können es auch! Mit der Rückenlage ist es ebenso. Man sagt, die Frauen dürfen in jeder Position gebären, aber die Rückenlagen überwiegen, weil die Frau sich freiwillig ins Bett legt. Komisch, das kommt im Geburtshaus nicht vor, eine Frau legt sich nicht freiwillig auf den Rücken, sie wählt und wechselt ihre Positionen mehrmals, ganz instinktiv. Oben auf dem Bett zu liegen, macht nur unsicher, ist von Vorteil für Arzt und Hebamme, damit die sich nicht bücken müssen. Also das ist auf die Dauer tatsächlich ganz schön anstrengend, wenn ich die ganze Zeit unter der Frau auf den Boden knie oder hocke, manchmal habe ich mich gefragt, ob ich, wenn ich älter bin, das noch so werde machen können. Tatsache ist aber, dass die Frauen im Krankenhaus auf dem Rücken landen. Und dass viel zu viele Dammschnitte gemacht werden, ist immer noch eine Realität, und dass das alles jetzt in schönen Kreißsälen stattfindet, macht es ja auch nicht angenehmer. Bei uns ist die Dammschnittrate 8 Prozent, im Krankenhaus beträgt sie bis zu 80 Prozent. Und jetzt steigt ja auch die Kaiserschnittrate zusehends. In Deutschland haben wir 20 bis 25 Prozent, fast jedes vierte Kind, und heute ist ja auch die „Wunschsektio“ im Gespräch. Als medizinische Indikation gilt auch Angst vor der Geburt, also in diesem Fall zahlt die Kasse. Italien liegt übrigens mit 50 Prozent Kaiserschnittrate an der Spitze in Europa, in den USA sind’s noch mehr, und in Brasilien sollen es über 80 Prozent sein. Also bei uns im Geburtshaus kommt Angst jedenfalls gar nicht erst auf.“
Drei Tage später sind wir mit Frau Rosendahl im Geburtshaus verabredet. Es liegt an einem großen Platz mit Parkanlage, schräg gegenüber dem Schloss Charlottenburg. Das Haus, ein altes Mietshaus, ehemals für Offiziere der Garde, wird vorwiegend gewerblich genutzt. Es hat keinen Aufzug. Im zweiten Stockwerk liegen sieben Räume des Geburtshauses, über Eck gehend, verteilt auf zweihundert Quadratmeter. Der erste Blick fällt in einen gut beleuchteten langen Flur mit altem Sofa, es gibt Zeitschriften und Kaffee auf einem Tischchen für die Wartenden. Frau Rosendahl zeigt uns mit einladenden Handbewegungen die einzelnen Räume, öffnet einen Wandschrank und holt ein knöchernes Becken heraus zum Üben, dazu gehört ein Negerpüppchen, das angeblich durch die enge untere Öffnung gezwängt werden kann. Wir versuchen es nicht. Im Büro ist heftiger Betrieb an den Schreibtischen, ansonsten ist die Wohnung leer, keine Gebärende ist anwesend, alle Zimmer können von uns besichtigt werden. Zwei große, lichte Räume gehen, ebenso wie das Büro, zum Platz hin. Sie sind, wie die gesamte Wohnung, in warmen, hellen Farben gehalten. Der Parkettfußboden glänzt matt, die Einrichtung ist sparsam, kein Kitsch fällt ins Auge. Die Privatatmosphäre ist Ikea-geprägt und hat etwas von einer gutbürgerlichen Studentinnenwohngemeinschaft. Hinter den Glasfenstern der Schiebetüren des größeren der beiden Räume, dem Seminarraum, liegen stoffbezogene schmale grüne Gymnastikmatten in Reih und Glied bereit. Die Teeküche, versichert Frau Rosendahl, können die Eltern mitnutzen. Nach hinten hinaus, zum Hinterhof, liegen die Gebärräume. Es sind drei. Im größten dominiert ein umfangreiches, fest gepolstertes Bett, in den Schubladen des hölzernen Unterbaus sind diverse Utensilien, sterile Instrumente, Binden, Sauerstoffmaske usw. untergebracht. Von der Decke hängt eine fest verankerte Schlinge aus Stoff, in die sich die Frauen hineinhängen können, zwei niedrige Gebärhocker mit gepolsterter halbmondförmiger Sitzfläche stehen bereit. Es gibt zur Auswahl auch noch ein Holzsprossengestell mit verschiebbaren Stangen zum Festhalten, unten ist ein schräg geneigtes Fußbrett angebracht, offenbar haben viele Frauen das Bedürfnis, fest irgendwo die Füße aufzustemmen. Ein großer Gymnastikball aus Gummi ist allseits bekannt unter Schwangeren hierzulande. Hier also kniet und sitzt Frau Rosendahl oder eine ihrer Kolleginnen, während die Frau unter Schmerzen – von denen insgesamt wenig die Rede ist – und Stöhnen gebiert. Wir fragen, wie das ist mit den Bewohnern des Hinterhauses, wenn nachts eine Frau schreit. „Also wir haben noch nie eine Beschwerde gekriegt“, sagt Frau Rosendahl, „manchmal sagt eine Mieterin, na, ihr habt wohl wieder ein Kind bekommen heute Nacht? Das ist alles.“
Das zweite Zimmer ist klein, hat ein schmales Bett, das am Fenster steht, dichte Vorhänge, Wickeltische, Wehenschreiber und Wärmelampe wie auch in den anderen Räumen. Frische Blumen stehen in jedem Zimmer, bei Bedarf kann auch Musik gehört werden. Esoterisches, Klassik oder auch Trommeln. „Ich hatte mal eine Frau“, sagt unsere Gastgeberin, „die war riesengroß und ich dachte, die will sicher in den großen Raum, aber nein, sie wollte unbedingt in diesen ‚gelben‘, kleinen, das ist eben Geschmackssache.“ Der nächste Raum ist ein Prunkstück, nicht sehr groß, aber eingenommen von einer großen, uterusförmigen, hohen Wanne. Sie ist mit Mosaik verkleidet in verschiedenen Blautönen, auch der Boden rund um die Wanne ist mit Mosaik verziert. Die Zimmerwände sind zur Hälfte blau, in Wellenform abgesetzt. Fünfhundert Liter fasst die Wanne und innen ist eine bequeme Sitzfläche, auf der die Frau lagern kann. „So, das ist alles“, sagt Frau Rosendahl und lächelt. „Ja, und die Arbeitsräume, die bezahlen die Frauen erst mal aus eigener Tasche vorweg, wir erheben eine Kostenpauschale von 310 Euro, manche Kassen übernehmen das dann ganz oder teilweise, die meisten nicht. Aber die direkten Hebammenleistungen, die übernimmt die Kasse, und die rechnen wir nach unserer Hebammen-Gebührenordnung auch selber mit den Kassen ab. Die Frauen, die angemeldet sind, die betreuen wir ja auch im Wochenbett – also definiert werden die ersten drei Wochen, am Anfang jeden Tag … die Kasse zahlt bis zu acht Wochen und danach dann nur noch mit ärztlichem Attest oder zur Stillberatung eben. Wichtig ist vielleicht noch zu sagen, dass wir Hebammen uns das gerecht aufteilen. Also jede bekommt eine bestimmte Anzahl von Frauen zugesprochen, damit jede sich ihr Geld verdienen kann. Auch bei den Kursen teilen wir uns gerecht auf. Über den Monat lässt sich Gerechtigkeit nicht so gut herstellen, es sind immer so etwa 28 Frauen, die zur Geburt angemeldet sind, das heißt, es stehen immer welche zur Geburt an – die Frauen können sich übrigens ‚ihre‘ Hebamme nicht aussuchen, wir können diese optimale Rund-um-die-Uhr-Betreuung der gesamten Geburt durch eine Hebamme nur über einen geregelten Dienst gewährleisten. Na ja, und für uns ist es immer ein bisschen Glück, ob es in meinem Dienst ‚piepst‘ oder nicht, aber sagen wir es mal so, übers Jahr verteilt es sich gerecht. Wir sind mit dieser Regelung total zufrieden und streiten uns auch nie ums Geld.
So, nun haben sie alles gesehen, und ich hoffe, dass es mir gelungen ist, klar zu machen, dass wir Hebammen bodenständige Menschen sind und die Geburt ein normales Ereignis ist im Leben von Menschen – und von Säugetieren …“
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