: Kinder haften für ihre Eltern
Ende des Anfangs der Nachhaltigkeit: 471 Millionen Euro Steuerausfälle will die rot-rote Koalition komplett über Neuverschuldung finanzieren. Berlin hat schon 46.000.000.000 Euro Schulden. Defizitausgleich rückt in weite Ferne
von ROBIN ALEXANDER
Die rot-rote Koalition will Steuerausfälle in Höhe von 471 Millionen Euro nicht über Einsparungen im Haushalt erbringen. Stattdessen soll die komplette Summe über eine Erhöhung der Nettoneuverschuldung erbracht werden. Darauf verständigten sich Spitzenpolitiker von SPD und PDS gestern. Ein Nachtragshaushalt wird dennoch notwendig: Risiken im laufenden Etat in Höhe von 219 Mio. Euro sollen durch Kürzungen aufgefangen werden. Diese Summe kommt zustande durch Sozialausgaben über Plan (180 Mio.) und so genannte Personalfolgekosten für den öffentlichen Dienst (39 Mio.).
Diese Entscheidung zur weiteren Verschuldung trafen der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, Stadtentwicklungssenator Peter Strieder, Fraktionschef Michael Müller (alle SPD) sowie Wirtschaftssenator Harald Wolf, Partei- und Fraktionschef Stefan Liebich und Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (alle PDS). Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) und der Abgeordnete Carl Wechselberg (PDS) wirkten beratend mit. Die Koalitionspolitiker trafen sich gestern zum ersten Mal seit dem Amtsantritt des rot-roten Senats als formaler „Koalitionsausschuss“. Dieser war auf Initiative der PDS einberufen worden. So ein Gremium gilt als institutionalisierte Form der Klärung von Koalitionsstreit.
Nach Teilnehmerberichten ging es jedoch äußerst harmonisch zu. Sozialdemokraten und Sozialisten waren sich einig, dass die Ausfälle an Steuern und Länderfinanzausgleich nicht über weitere Kürzungen ausgeglichen werden können. In der Tat ist es objektiv schwierig, eine solche Summe in einem laufenden Haushalt einzusparen. Allerdings sind die Ursachen des Steuereinbruchs – die schwache Konjunktur und die Steuerpolitik der Bundesregierung – lange bekannt. Der Regierende Bürgermeister selbst hatte in Interviews immer wieder auf die Unsicherheit der Steuerschätzung hingewiesen.
Ein wichtige Entscheidung wurde gestern im Koalitionsausschuss nicht getroffen: Wie will die rot-rote Koalition auf die Steuereinbrüche in den kommenden Jahren reagieren? Es gilt als sicher, dass die Prognosen, auf denen die Finanzplanung der nächsten Jahre beruht, ebenfalls zu positiv angesetzt wurden. Die Vertreter der PDS strebten bereits gestern eine Verabredung an, diese Abweichungen von der Planung nicht zum „Handlungsbedarf von Rot-Rot“ (ein Teilnehmer) zu machen. Im Klartext: Auch kommende Steuerausfälle sollen über Verschuldung ausgeglichen werden. So weit mochten die Sozialdemokraten gestern nicht gehen. Über eine Korrektur der mittleren Finanzplanung soll erst im nächsten Jahr entschieden werden.
Senatssprecher Michael Donnermeyer sieht keine Abweichung von der Sparpolitik: „An den Dingen, an denen wir etwas machen können, sparen wir weiter.“ Der Konsolidierungskurs des Finanzsenators wird jedoch immer mehr verwässert. Hatte Sarrazin bei seiner Amtsübernahme noch die Erwirtschaftung eines „Primärüberschusses“ für das Jahr 2006 als Ziel angegeben, muss er jetzt sogar mit einem „Primärdefizit“ bis weit über 2006 hinaus kalkulieren. Offiziell bestätigt Sarrazin nicht, dass er außerdem erhebliche Zweifel hat, dass die Risiken im laufenden Haushalt mit 219 Millionen Euro hoch genug angegeben sind. 250 Millionen sollen bei den Personalkosten eingespart werden. Ein konkreter Fahrplan hierfür liegt bisher noch nicht vor. Weitere Einnahmen sind ebenfalls gefährdet: Der mit 604 Millionen Euro veranschlagte Verkauf von Landesvermögen scheint zu hoch angesetzt.
Der Nachtragshaushalt für 2003 soll am 28. Januar vom Senat beschlossen und im April vom Parlament gebilligt werden. SPD-Chef Strieder kündigte eine „schwierigen Operation“ an: Die Sparhaushalte der vergangenen Jahre hätten „die Ecken schon ausgefegt“. Es gebe in Berlin keine Sparmaßnahme mehr, die niemand merke.
Nach der bisherigen Finanzplanung sollte die Verschuldung Berlins zum Jahresende rund 46 Milliarden betragen. Die Zinsen sorgen dafür, dass die Verschuldung enorm steigt. Konkret steigen die Schulden Berlins laut Bund der Steuerzahler um 200 Euro – pro Sekunde.
Die Finanzverwaltung konnte gestern noch keine Auskunft über die Auswirkung der zusätzlichen Neuverschuldung auf die Gesamtverschuldung Berlins geben. Ein Sprecher verwies die taz für aktuelle Zahlen stattdessen auf die Internetseite zweier Berliner Studenten: Sie ist zu finden unter www.geld-ist-alle.de.
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