piwik no script img

Durchwursteln? Ist doch gut so!

Politik in Berlin: ziemlich viel Chaos, ein großes und ratloses Hin und Her, Zwistigkeiten zwischen den Koalitionspartnern und immerzu dramatische Krisenarien, Gerüchteparolen, aufgeblasene Empörung. Alles ganz furchtbar. Aber alles auch ganz trivial. Denn so lief das schon fünfzig Jahre lange zuvor in der kleinen Bundeshauptstadt am Rhein. Die Hundert-Tage-Bilanzen der Regierungen fielen bereits damals regelmäßig trostlos aus. Auch die erfahrensten Strategen unter den deutschen Kanzlern bekamen in den ersten Wochen und Monaten nach den Wahlen nicht viel hin, hatten allesamt ihre liebe Mühe, das Räderwerk des Regierungsgeschäfts ans Laufen zu bringen. Vor allem der als effizienter Macher und Manager noch heute weithin gepriesene Helmut Schmidt war nach den Wahlsiegen 1976 und 1980 völlig von der Rolle, hatte sich seinerzeit schon des Vorwurfs der „Rentenlüge“, des Wahlkampfbetrugs also zu erwehren. Und der große Staatsmann und Langzeitkanzler Helmut Kohl brauchte ein langes halbes Jahrzehnt, um das Kanzleramt zu einer einigermaßen funktionsfähigen Schaltzentrale der Regierungspolitik zu machen. Bis dahin gab es eben viel Durcheinander, viel Konfusion, viele Konflikte zwischen den Regierungsparteien und immer wieder dramatische Gerüchte über das vorzeitige Aus der Kanzlerschaft Kohl. Ludwig Erhard, Willy Brandt und selbst Konrad Adenauer ging es keineswegs anders. Man hat das alles nur wunderlicherweise verdrängt.

So gesehen bräuchte sich Gerhard Schröder eigentlich nicht zu sehr zu grämen und zu viel Sorgen zu machen, selbst wenn alles so weitergehen sollte, was Tag für Tag in grellen Schlagzeilen lauthals angeprangert wird: Die Regierung wird an keiner Stelle eine Politik aus einem Guss betreiben; sie wird ihre Gesetzesvorlagen ständig korrigieren, umwerfen, abschwächen, neu zurechtzimmern. Der eine Minister wird dies, der andere darauf etwas ganz anderes verkünden. Der Kanzler wird dazu lange schweigen, später dann beides energisch dementieren. Am Ende all des Kuddelmuddels und Gewurstels wird viel Flickschusterei, ein ziemlich richtungsloser Kompromiss stehen. Exakt so wird es kommen. Und exakt so würde Politik auch dann noch verlaufen, käme es 2006 zu einem Regierungswechsel mit einem christdemokratischen Kanzler – und 2010 die Rolle rückwärts nochmals erfolgen sollte. Denn das alles sind keine zeitweiligen Pannen und Missgriffe; es ist die Substanz, und es ist die Struktur von Politik in Deutschland schlechthin.

Natürlich wissen alle erfahrenen politischen Praktiker, ob nun in den Parteien oder im kommentierenden Journalismus, dass es so ist und so sein muss. Aber dennoch tun alle so, als wäre es auch ganz anders möglich. Die gesamte politische Öffentlichkeit operiert mit einem Begriff des Politischen, der zumindest in Deutschland nicht von dieser Welt ist. Eben dadurch wird fast jeder Kommentar über den wirklichen Politikbetrieb in Bonn zu einem aufgeregten Krisenmelodram, zu einer dramatischen Katastrophenoper, zu einem alarmistischen Paukenschlag. Und politisch bleibt alles ganz folgenlos.

Irgendwie sind es immer noch die Maßstäbe aus den frühen demokratietheoretischen Modellen des 19. Jahrhunderts, die da herumgeistern: Eine Mehrheit der Wähler schickt demnach eine Partei in die Regierung, damit diese von dort aus mit den zentralstaatlichen Machtinstrumenten ihre programmatischen Konzepte verwirklichen und so die Gesellschaft durchformen, gestalten, prägen kann. Das mag ein wenig so noch immer für das englische Regierungssystem gelten. Das entspricht aber schon längst nicht mehr der Realität der meisten europäischen Staaten. Für Deutschland jedenfalls trifft es gar nicht zu. In Deutschland gibt es den zentralstaatlichen politischen Souverän nicht. In Deutschland haben wir gewissermaßen einen, wie es die amerikanischen Politologen nennen, „semisovereign state“. In Deutschland ist die politische und gesellschaftliche Macht extrem fragmentiert; hier gibt es eine Menge Nebenregierungen und Einflussparzellen, die das Berliner Kabinett zu einem sicher nicht gänzlich einflusslosen, aber auch nicht uneingeschränkt souverän entscheidenden Akteur unter vielen anderen in der Arena der Macht reduzieren. In einer solchen Machtstruktur ist Politik, gleichviel welcher Couleur, immer zu einer mühsam ausbalancierten Kompromisspolitik gezwungen, meist auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Alternative ist allein: völlige Blockade, Paralyse, rien ne va plus. Kein Kanzler kriegt unter diesen Machtverhältnissen ein stimmiges, kohärentes Projekt durch.

Doch ist dieses kohärente Projekt der Maßstab des politischen Urteils in Deutschland. Und einiges spricht ja auch dafür, dass das Land zielgerichtet aus seiner sich in der Tat Jahr für Jahr verschärfenden Krisenlage herausgeführt werden muss. Zugleich aber denkt keine einflussreiche Kraft in der deutschen Republik ernsthaft daran, die institutionellen Voraussetzungen für „Politik als Richtungsprojekt mit rotem Faden“ herzustellen. Niemand tritt in Deutschland für die Abschaffung der vielen Regionalwahlen ein, für die Liquidierung des Föderalismus, für die Beseitigung oder auch nur die Reform des Bundesverfassungsgerichts und der autonomen Notenbank. Und so weiter. Für eine solche Systemtransformation gibt es nirgendwo einen gesellschaftlichen oder politischen Motor. Das aber macht die Fundamentalkritik am Durchwursteln sämtlicher Regierungen so richtungs- und wirkungslos. Alle haben sich mit den Voraussetzungen der föderalen Verhandlungs- und Konkordanzdemokratie abgefunden, aber alle tun trotzdem so, als wünschten sie eigentlich die zentralstaatlich orientierte Wettbewerbsdemokratie, um kraftvolle Innovationen und Reformen zustande zu bringen.

Doch wäre es unter scharfen wettbewerbsdemokratischen Bedingungen dann passee mit der kommoden Stabilität der politischen Kultur. Es wäre vorbei mit Konsens, sozialem Frieden, Integration und Ausgleich, was in Wahrheit die Deutschen doch so über alles schätzen. Minderheiten jedenfalls haben in Wettbewerbsdemokratien nichts zu lachen. Und oft genug werden in harten Wettbewerbsdemokratien mit starker Zentralmacht die Gesetze überstürzt und schlampig durch die Parlamente gepeitscht. Solcherlei Fundamentalreformen stiften am Ende mehr Schaden als Nutzen – und sind schließlich nur noch schwer zu korrigieren, meist nach öffentlichen Massenprotesten, gar militant geführten Streiks. Nichts davon wollen die behäbigen und ängstlichen Deutschen natürlich ernsthaft. Und doch ist die zentralstaatliche Wettbewerbdemokratie Kriterium und Maßstab des politischen Diskurses in Deutschland, am Stammtisch wie in den Zeitungsredaktionen.

Verrückterweise spielen die Politiker – voran natürlich diejenigen der jeweiligen Opposition – dieses Spiel mit, obwohl sie immer mehr zum Opfer ihrer eigenen Inszenierung werden. Sie wissen, wie eng ihr Handlungsspielraum ist. Sie wissen, wie stark die Verhandlungs- und Vermittlungszwänge ihre politische Souveränität einschnüren und begrenzen. Aber sie tun doch jederzeit so, als wären sie die potenten politischen Gladiatoren, die mächtigen Lenker der Staatsgeschäfte. Doch dann müssen sie die selbst erzeugten Erwartungen immer enttäuschen, weil die reklamierte kraftvolle Führung mit der realen saftlosen Moderatorenrolle nicht recht harmonisieren will. Eben das hat den tiefen Frust erzeugt, der wie ein depressiver Schleier über der Republik liegt.

Darin liegt die Gefahr vor allem einer exponierten Fernsehpolitikerschaft. Die Telegesellschaft verstärkt den Eindruck einer im Grunde allmächtigen Zentralregierung mit einem im Grunde allmächtigen Bundeskanzler an ihrer Spitze. In der Telegesellschaft kommen Handlungsrestriktionen, institutionelle Einflussstrukturen, kommen Kompromisse und Zwänge nicht vor. In der Telepolitik zählt allein die Person ganz oben, die gewinnt oder verliert. Dazwischen gibt es nichts. Und da die Spitzenpolitiker als Telepolitiker nun nicht gut die Rolle der Verlierer und Schwachen spielen können, mimen sie pausenlos die kraftvollen Machertypen, die alles entscheidungsfreudig ganz fest – „Chefsache“ – im Griff haben. Doch das Krisenmanagement des Kompromisses, das den wahren Alltag des Regierens ausmacht, delegitimiert diese Attitüde Stückchen für Stückchen. Und es führt zur Geringschätzung, ja Verachtung von Politik, Parteien, Parlament.

Dazu: Es ist in der Telegesellschaft schwer, unorthodoxe und eigensinnige Reformprojekte auf den gesetzgeberischen Weg zu bringen. Denn die Scheinwerfer der Telegesellschaft leuchten schon die frühen tastenden Diskussionsprozesse und ersten Referentenentwürfe in den Ministerien aus. Das mobilisiert dann eher denn je die laut drohenden Verhinderungsbataillone der Gesellschaft und drängt die Regierenden in aller Regel zu eiligen Dementis und hastigen Rückzugsbewegungen. Insofern ist auch die Telegesellschaft, zumindest in dieser Hinsicht, ein Status-quo-Instrument der bundesdeutschen Konkordanzdemokratie. Man wird jedenfalls dem Arkanbereich der klassischen Politik noch nachweinen, in dem sehr verborgen und in aller Ruhe Politik gründlich vorbereitet, ihre Folgen reflexiv ausgemessen und ihre Umsetzung kaltblütig betrieben werden konnte. Irgendwann in den Fünfzigerjahren war das. Seither wurde es immer schwieriger.

Doch nutzen solche Sentimentalitäten natürlich nichts. Politik wird auch künftig zu einem großen Stück Telepolitik sein. Überdies, es ist gewiss schwierig, aber es ist zu machen: Man kann mit Telepolitik auch Strukturen in Bewegung bringen, Vorhaben initiieren, neue politische Ansprüche und Ideen stimulieren, Bevölkerungsmehrheiten gegen begrenzte Gruppeninteressen mobilisieren. Ronald Reagan hat dies in den frühen 1980er-Jahren glänzend exerziert. Aber auch der österreichische Sozialist Bruno Kreisky hat es vorgemacht, der damit während der Siebzigerjahre dreimal hintereinander die absolute Mehrheit für seine Partei holte, was sonst keiner sozialdemokratischen Partei dieser Welt jemals gelungen ist. Auch Kreisky war ein brillanter Journalisten- und Telepolitiker. Aber er wusste – wie Reagan und ein bisschen auch Tony Blair –, wohin er wollte. Sie alle waren wendige und bedenkenlose Taktiker, doch sie hatten dabei scharf umrissene Ziele, waren gewissermaßen durchdrungen von einer spezifischen Idee, ja Mission. Bei ihnen verschmolz Telepolitik mit Leadership.

Darauf aber wartet man bei Gerhard Schröder. Die wuchtige Fundamentalreform wird er in Deutschland nicht lancieren, schon gar nicht durchsetzen. Aber ein wenig erkennbar in eine solche Richtung könnte er doch seine teleplebiszitären Auftritte lenken. Mehr kann man von einem Kanzler in Deutschland nicht erwarten. So viel allerdings wird man auch erwarten dürfen. Wer mehr will, der muss an die Grundlagen des politischen Systems der Republik heran. Davor scheuen bislang alle zurück. Dadurch aber fehlen dem wütenden Lamento dieser Tage Richtung und Ziel. Zurück bleibt daher allein folgenlose Depression.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen