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Mächtiger Orchesterdonner

Ein Abend mit Joni Mitchell. Die Sängerin, ganz Grande Dame, legt mit „Travelogue“ ihr vielleicht letztes Album vor: Alte Songs, neu und vor allem orchestral interpretiert – eine Werkschau als Musical

Merkwürdig: Man hört einen alten Protestsong – und sitzt quasi in der Oper fest

von ANDREAS MERKEL

Wünschenswert wären Abendgarderobe und ein guter Sitzplatz im Parkett. Sie sollten genügend Kleingeld dabeihaben und ausreichend Zeit, das Programm ist abendfüllend.

Denn die Kanadierin Joni Mitchell hat ihr jüngstes und vielleicht letztes Album „Travelogue“ wie ein aufwändiges Musical inszeniert. Ein Reisetagebuch, eine große Werkschau mit Orchester: 22 Songs aus vier Jahrzehnten Karriere, präsentiert in einer edlen CD-Doppelbox, auf dem Cover das selbst gemalte Porträt der Künstlerin, das Ganze nicht unter 30 Euro zu erwerben. Musik also, die Sie am besten betreten wie einen Konzertsaal am Broadway.

Das 70-köpfige Orchester, extra aus London eingeflogen, ist bereits auf seinen Plätzen, und Sie schauen noch schnell ins Programmheft. Joni Mitchell, heißt es dort, is a songwriter, singer, musician, poet and painter. Her output of 21 albums over 30 years is widely regarded as one of the most significant and consistent collections of work by any artist of her generation. Der Text stammt von der Begrüßungsseite ihrer Homepage (www.jonimitchell.com) und klingt so ungelenk, als müsste die Diva erst noch wie irgendeine Kleinkünstlerin vorgestellt werden.

Dabei ist Joni Mitchell doch schon immer größer als Madonna gewesen – und trotzdem niemandem unter 30 bekannt, denn dafür müsste man wissen, wem die Stimme auf dem Sampling des Janet-Jackson-Hits „Got Til It’s Gone“ gehört. Ein Blick ins Publikum bestätigt Ihnen das: Überwiegend Althippies und 68er, alle mächtig aufgebrezelt, aber auch ein paar Celebrities aus der Musikszene, James Taylor, David Crosby und Prince – „Ja, tatsächlich Prince!“, wie Sie Ihrer aufgeregten Begleiterin gern noch einmal bestätigen.

Und dann geht es auch schon los: „Otis and Marlena“, das Orchester mit Streichern und Bläsern gediegen-geschmackvoll im Hintergrund, im Vordergrund die Grande Dame Joni Mitchell mit dieser beeindruckenden Stimme, angeraut von zu vielen Zigaretten in dunklen Cafés und doch immer wieder im Refrain so klar wie ein Gebirgsbach in den Rocky Mountains. Sie singt eine fiese kleine Geschichte wie von Raymond Carver: Marlena und Otis sind auf der Suche nach Sun-and-Fun in Florida, können den Urlaub aber nicht genießen, während eine Gruppe Muslime in Washington jüdische Geiseln in ihre Gewalt gebracht hat. „While Muslims stick up Washington“, Joni Mitchell macht eine bedeutsame Pause für den Zeitbezug, und der Vorfall hat sich seinerzeit im März 1977 tatsächlich zugetragen.

Der nächste Song „Amelia“ ist dagegen inspiriert von der amerikanischen Luftfahrtpionierin Amelia Earhart, die 1937 bei ihrem Versuch, die Welt zu umfliegen, einfach über dem Pazifik verschwand, „irgendwo nahe der Datumsgrenze“, wie Sie wieder Ihrer Begleiterin zuflüstern, deren Interesse allerdings langsam erlahmt.

Die Musik verlangt jetzt jedoch alle Aufmerksamkeit. Zum Nebenbeihören und Rumträumen eignet sie sich denkbar schlecht, immer wieder wird man vom mächtig vorpreschenden Orchesterdonner aufgeschreckt. Eine eigenartige Erfahrung, mal wieder den alten Protestfolksong „Woodstock“ mit Botschaften wie „We got to get ourselves back to the garden“ zu hören – und hier quasi in der Oper festzusitzen. Dementsprechend gibt es aber auch große Momente: Das mit alttestamentarischer Wucht daherkommende Klagelied Hiobs, „The Sire of Sorrow“, findet in dem orchestralen Breitwandsound eine imposante Untermalung.

Dann ist die erste CD vorbei, das Musical geht in die Pause. Im Foyer treffen Sie die Fangemeinde. Bei einem guten Rotwein erzählt man Ihnen noch mal die herzergreifende Geschichte der 1943 in der kanadischen Provinz geborenen Roberta Jean Anderson. Die Tochter einer Dorfschullehrerin und eines Luftwaffenoffiziers verließ, kaum 20-jährig, ihre Heimat, um der Folkmusikstar Joni Mitchell zu werden und um – wie es der nur Popkritiker Karl Bruckmaier auf seiner großartigen Homepage www.le-musterkoffer.de formuliert – „nicht mehr zurückzukommen“.

Sie selbst machen dann den Fehler zuzugeben, dass Sie als Nachgeborener naturgemäß erst unverzeihlich spät auf Mitchell aufmerksam geworden sind und irgendwann im Dritten Programm mal ein Video gesehen haben, „My Secret Place“, Joni Mitchell im Duett mit Peter Gabriel. Seitdem haben Sie sich begeistert jede ihrer Platten gekauft, von den „älteren Sachen“ besitzen Sie jedoch nur „Blue“. Stirnrunzeln bei den Umstehenden. In den Neunzigern habe die doch nur noch Mainstream-Rock-’n’-Roll abgeliefert.

Dann sind die Pause und das Nachsitzen zum Glück vorbei.

Und die zweite Hälfte des „Travelogue-Musicals“ wartet doch noch mit einer Überraschung auf. Nachdem die meisten Songs der ersten CD so klangen, als hätten Sie sich gemeinsam mit Joni in Disneys „König der Löwen“ verirrt, finden Sie sich jetzt plötzlich in „Taxi Driver“ wieder. Die unversöhnliche Sozialkritik des Songs „Sex kills“ kommt in der Orchester-Neuinterpretation als spannender Thriller im Cinemascope-Format rüber. Auf den Schwingen von Wayne Shorters Saxofon gleiten Sie durch ein bedrohliches Großstadtszenario voller Korruption und Kapitalismus: You can feel it in the traffic, everyone hates everyone.

Sex kills – and Sex sells everything. Der Song knüpft an Joni Mitchells rigorose Abrechnung mit MTV und der gesamten Musikindustrie im amerikanischen Rolling Stone an. Was diese der Menschheit angetan hätten, sei nur als Tragödie zu bezeichnen, und sie selbst lehne es ab, noch länger diesem System zuzuarbeiten.

Es sieht also ganz so aus, als würde Joni Mitchell, die sich als Musikerin sowieso noch nie auf einzelne Genres wie Folk, Jazz oder Rock hat festlegen lassen, sich nun endgültig aus der Popmusik verabschieden – „um nicht mehr zurückzukommen“?

Aber wohin sonst? Mit dem Versuch, ihre eigenen Songs – deren größte Qualität eben gerade im Heraufbeschwören jener ganz bestimmten Momente liegt, in denen sich Privatsphäre und Gesellschaftliches vermischen – auch noch nachträglich zu zeitlosen (also belanglosen) „Klassikern“ zu veredeln, tut sie sich selbst keinen Gefallen. Am Ende verlassen Sie das große „Travelogue“-Musical nach über zwei Stunden ebenso ehrfürchtig wie geplättet, aber auch mit dem schwer melancholischen Verlangen, die Songs unbedingt mal wieder im Original zu hören.

Und auch Joni Mitchell sollte ihre Zuflucht lieber wieder in den Straßen, nicht in den Konzertsälen suchen.

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