: Ein Anti-Cinema Paradiso
Neu im Kino: „Das letzte Kino der Welt“. Tolle Ideen, wunderbare Schauspieler, aber leider macht Regisseur Alejandro Agresti erstaunlich wenig aus seinen Einfällen
Was für einen Film hätte man aus dieser Geschichte machen können! In einem Dorf am Ende der Welt, im tiefsten Patagonien, gibt es kein Fernsehen und kein Radio, sondern nur ein altes Kino. Dort kommen die Filme erst an, wenn sie schon in allen anderen Kinos von Argentinien gezeigt worden sind. Das tut den Filmkopien nicht gut, und so kommen sie verstümmelt ins Dorfkino. Die Bilder sind verkratzt, und es fehlen viele Einzelbilder, ja ganze Sequenzen. Keiner weiß mehr, in welcher Reihenfolge die einzelnen Akte gezeigt werden sollten, und so kann niemand mehr den Sinn der Geschichten erraten.
Die jungen, kinobesessenen Bewohner des Dorfes sind völlig verwirrt, weil in den Filmen ihres Kinos das Chaos regiert. Sie können nicht mehr richtig denken, reden und handeln. Als Gegengift versuchen die Vernünftigen im Dorf selber Wochenschauen zu drehen. Völlig verrückt wird es, wenn Jeff Wexley, ein Schauspieler, dessen Filmfragmente man im Dorf besonders liebt, dort plötzlich auftaucht und glaubt, sein ideales Publikum gefunden zu haben, weil es das pure Kino verehrt.
Tolle Ideen, und zudem hat der argentinische Regisseur Alejandro Agresti auch noch die wunderbaren Schauspieler Jean Rochefort (als Jeff Wexley) und Angelina Molina zu den Dreharbeiten ins entlegendste Feuerland gelockt. Aber leider hält der Film längst nicht alles, was er verspricht. Denn Agresti, der in Argentinien mit surrealen Filmen einen soliden Erfolg in den Kunstkinos hat, macht erstaunlich wenig aus seinen Einfällen.
Die abgenudelten Filmkopien etwa – was hätte man daraus für ein groteskes Spektakel inszenieren können. Agresti montiert ein paar Ausschnitte aus alten Filmen mit Rochefort, und das war es auch schon. Ãhnlich ist es mit dem merkwürdigen Benehmen der jungen Dorfbewohner. Wirklich absurd wird das nie, Agresti hat scheinbar nicht die Geduld oder Disziplin, eine Idee, einen dramaturgischen Spannungsbogen, eine Charakterzeichnung eindrucksvoll zu Ende zu führen.
Manchmal wirkt sein eigener Film so, als wäre er einer von denen, die in diesem Dorf gezeigt werden. Wäre auch eine schöne Idee, wird aber ebenfalls nicht konsequent zu Ende geführt. Agresti scheint auch nicht besonders an Schauspielern oder Schauplätzen interessiert zu sein. Rochefort, Molina und auch die raue Landschaft Patagoniens, wo in der Ödnis manchmal im Hintergrund imposante Schneeberge auftauchen, sind geradezu lieblos abfotografiert. Dafür packt der Regisseur lieber noch ein paar absurde Ideen in den Film. So etwa die vom kleinen Genie des Dorfes, das nacheinander die Relativitätstheorie, die Psychoanalyse und den Sozialismus erfindet, ohne zu wissen, dass schon Einstein, Freud und Marx lange vor ihm darauf kamen.
Durch all diese kleinen Pointen wird der Film nie langweilig. Man bekommt auch einen Eindruck davon, wie es sich so lebt in einer der verlassensten Ecken der Erde, und Agresti erzählt durchaus sympathisch die Geschichte vom allerletzten Kino der Welt. Ein Film mit dem Dialog: „Wer ist denn der Mann mit der leuchtenden Taschenlampe im Mund?“ „Der Filmkritiker!“ kann (zumindest für seine Kollegen) nicht ganz schlecht sein. Aber man wünscht sich, er wäre besser geworden.
Wilfried Hippen
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