piwik no script img

Die Unbekannte schminkt sich

Lille, Frankreichs einstiges Schmuddelkind, wird Kulturhauptstadt Europas 2004. Die Millionenstadt im Norden, in der es angeblich immer regnet, hat nach Jahren des Niedergangs ihre Mitte wiedergefunden und setzt nun auf kreative Bürger

von ROBERT B. FISHMAN

Ça roule“, sagen sie hier, „es läuft“. Es läuft gut für Lille, die Millionenstadt, in der es angeblich immer regnet. Nach Brüssel fährt der Schnellzug nur noch 40 Minuten, nach Paris eine Stunde und nach London – dank Eurotunnel – nur noch zwei. So profiliert sich Lille erfolgreich als kulturelle und wirtschaftliche Drehscheibe zwischen den westeuropäischen Metropolen: eine lebensfrohe, bunte Stadt, die nach Jahren des Niedergangs ihre Mitte wiedergefunden hat. Hinter den frisch renovierten, mit Putten, Löwenmäulern und anderen märchenhaften Figuren reich verzierten, schmalen flämischen Bürgerhäuserfassaden aus dem 17. Jahrhundert eröffnen täglich neue Kneipen, Restaurants und Boutiquen. Die aus nackten Ziegelsteinen gemauerten Kellergewölbe der einst reichen Tuchhändler haben junge Designer zu schicken Klamottenläden umgebaut. Auf der Grande Place unter der Säule mit der Göttin des Widerstands lassen sich Einheimische und Touristen am großen Brunnen die Sonne ins Gesicht scheinen. Eine US-amerikanische Zeitung nannte Lille unlängst das „bestgehütete Geheimnis der Welt“

„Diese alten Fassaden und die vielen Kneipen, in denen man mit den Leuten sofort ins Gespräch kommt! Flandern ist so gesellig.“ Véra Dupuis ist in ihrer stürmischen Liebe zu ihrer Wahlheimat kaum zu bremsen. Inzwischen lebt sie sogar davon. Die gebürtige Hamburgerin führt Touristen durch die Stadt und schreibt über das faszinierende Wechselspiel zwischen Alt und Neu in ihrer Wahlheimat. Sie erzählt von Frankreichs zweitgrößter Kunstsammlung im Musée des Beaux Arts, von den angeblich besten, handgemachten Schokoladen- und Waffelleckereien bei Méert und vom Arbeiter-, Künstler- und Einwandererviertel Wazemmes.

Hier sitzen sie, die mit den verpassten Chancen und die Tagträumer, die ihre Hoffnungen in Bier und Pastis ertränkt haben. Jeden Sonntagnachmittag singt und tanzt Wazemmes in der „Cigale“ am Marktplatz. Nicole zum Beispiel, weit jenseits der 50, schmettert die Lieder der Piaf, bis ihr vom harten Leben und dem Alkohol zerfurchtes Gesicht nur noch strahlt. Immer mehr Gäste stehen auf, singen und tanzen mit. Während draußen die Markthändler aus Marokko, Algerien, Frankreich, China oder Kambodscha ihre Stände abbauen und die Armen des Viertels liegen gebliebenes Obst und Gemüse einsammeln, steigt in der Cigale die Stimmung. Im Liller Stadtteil Wazemmes haben Künstler, Poeten, Aus- und Einsteiger, Studenten, Arbeiter und Araber ihre Heimat gefunden. Sie liefern Dimitri, dem Kiezschriftsteller, den Stoff für seine Krimis und Kurzgeschichten.

„Ich schreibe auf der Straße, da passiert so viel“, schwärmt der 31-Jährige, der seine Wazemmes-Krimis im Eigenverlag unter die Leute bringt. „Schau mal, da drüben wohnt ein Spanier, dort in der Sozialwohnung leben die Algerier mit ihren acht Kindern und gegenüber wohnt ein Kroate, der sein Haus an Portugiesen verkauft hat, die es an eine koreanische Familie vermieten.“

In einer Seitenstraße hat im alten Arbeiterkiez der erste teure Designerladen aufgemacht, und immer mehr leer stehende Textilfabriken werden zu edlen Lofts umgebaut – oder zu Häusern der Verrücktheiten. „Maison Folie“ nennt die Stadt ihr erstes Projekt für das Kulturhauptstadt-Jahr 2004. In einer alten Spinnerei entstehen ein Theatersaal, Cafés, Künstlerateliers und Werkstätten „für kreative Bürger“.

Vor langer Zeit wohnten die, die sich für angesagt hielten, die Kreativen, die verkrachten Existenzen und so genannte sozial Schwache in der Altstadt zwischen dem prächtigen flämischen Bahnhof aus dem späten 19. Jahrhundert und dem Schaufenster der Stadt, dem Grand Place. Inzwischen sind die mit Sandsteinskulpturen reich verzierten Händler- und Bürgerhäuser saniert, und das Kopfsteinpflaster in den engen Gassen sieht aus, als sei es gerade eben frisch verlegt worden.

Verschwunden der Hafen, die Flüsschen und Kanäle, die der Stadt Lille (L’ile = die Insel) einst den Namen gaben und jedes Jahr die Keller der Altstadt überfluteten. Man hat sie zugeschüttet.

Mitten in der schick gewordenen Altstadt eröffnete Jean Luc Leconte ein Estaminet. Der Name kommt aus dem Spanischen, der Sprache der Kolonialherren, die Flandern bis ins 17. Jahrhundert regierten. Übersetzt heißt das: „Wo sind die Freudenmädchen?“ Inzwischen gibt es im französischen Süden Flanderns wieder an die zwanzig Estaminets, und ständig kommen neue hinzu.

Im T’Rijsel (der flämische Name von Lille) serviert Leconte in einer mit alten Emaillekannen, Töpfen, und Schildern dekorierten Speisestube an rohen Holztischen flämische Spezialitäten wie die süßsaure Karbonade, Riette à la Bière oder Potje Vleesch. Diese in einer Brühe stundenlang gekochte Mischung aus Fleischresten war früher das Armeleuteessen. Schlachtabfälle kamen sonntags als einzige Fleischration kalt auf den Tisch. Schon die Vorspeise – mit Blaubeeren, Brombeeren, Rhabarber und Bier versetzte Pasteten mit einem Hellen und einem achtprozentigen Dunklen als Aperitif reicht, um den Hunger eines schwer arbeitenden flämischen Bauern zu stillen. Die Hauptspeisenberge auf den Nouvelle-Cuisine-großen Tellern sind danach wirklich nicht mehr zu schaffen. Ebenso wenig die skurrilen Nachtischspezialitäten wie etwa das Biereis.

Auf den Tischen sorgen die traditionellen flämischen Holzspiele für Kommunikation. Spätestens nach dem zweiten Bier versuchen auch gediegene Geschäftsleute in Anzug und Krawatte, mit einem Holzhämmerchen kleine Eisenkugeln an Nägeln vorbei ins gegnerische Tor zu schießen, oder sie pusten beim Sankt-Nikolaus-Billard mit einem kinderfaustgroßen Blasebalg ein Kügelchen in Richtung ihrer Tischnachbarn.

Die Wohnzimmerkneipen waren vor allem das zweite Zuhause der kleinen Leute, der Bauern, der Fabrikarbeiter und der Bergleute, die den Stoff aus dem Boden holten, der Frankreichs Norden im 19. Jahrhundert reich gemacht hatte: Kohle. Nicht umsonst spielt Émile Zolas mit Gérard Depardieu erfolgreich verfilmtes Sozialdrama „Germinal“ hier im Norden.

In den 60er- und 70er-Jahren verlor die Region plötzlich ihre Lebensgrundlage: Kohle, Stahl, Werften und vor allem die Stoffherstellung rentierten sich nicht mehr. Zwischen 1960 und 1990 verschwanden 300.000 Arbeitsplätze. Trotz eines beachtlichen Wirtschaftsaufschwungs zählt die Region Lille immer noch vier Prozent mehr Arbeitslose als der französische Durchschnitt.

Da kommt der Titel „Europäische Kulturhauptstadt 2004“ gerade recht. Insgesamt 76 Millionen Euro haben die Planer des Kulturhauptstadtjahrs für ihre Projekte bekommen. In der ganzen Region werden damit wie in Roubaix und Lille-Wazemmes zwölf ehemalige Fabriken und Klöster zu Maisons Folies, „Häusern der Verrücktheiten“, umgebaut. Unter angeblich großer Beteiligung der Anwohner entstehen Künstlerateliers, Theatersäle, Restaurants, Cafés, Begegnungszentren und offene Räume, in denen die Menschen Schauspiel, Musik und bildende Künste lernen und ihre Arbeiten zeigen können.

Für André Delpont von der Wirtschaftsförderungsgesellschaft APIM ist dies ein weiterer Baustein für ein besseres Image seiner Region. „Wissen Sie, wir sind hier im Norden, da bewegt man viel, aber man spricht wenig darüber“, sagt Delpont. Dabei seien doch die Menschen die wichtigsten Botschafter ihrer Region. So wie Véra Dupuis, die als Zugereiste mit ihrer Begeisterung für Lille alle Besucher der Stadt infiziert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen