: „Ich fälle kein Urteil“
Interview PHILIPP GESSLER
taz: Herr Hilberg, wenn eine 20-jährige Deutsche fragt, warum die Juden umgebracht wurden: Was antworten Sie ihr?
Raul Hilberg: Auf ein Warum kann ich nicht antworten, weil ich lebenslang nur erforschte, was geschah. Ich wollte wissen, wie etwas zustande kam: In welcher Reihenfolge Maßnahmen getroffen wurden, wer daran litt und umkam. Das war die Hauptsache: die Erhellung des Geschehens.
Aber Sie haben doch mehr Fakten gesammelt als alle anderen Schoah-Forscher: Auch Sie haben keine Antwort auf die Frage nach dem Warum?
So ist es, weil die Antwort immer komplizierter wird: Je mehr Fakten, desto mehr Antworten. Es wurden sehr viele Entscheidungen getroffen, es gab sehr viele Maßnahmen und Menschen, die darin verwickelt waren. All diese Motive müssen erfasst werden. Es sind so viele, sie sind so kompliziert, dass eine einfache Erklärung nicht passt.
Werden wir überhaupt einmal diese Frage nach dem Warum klären können?
Zu jeder Zeit – wenn man sich zufrieden gibt mit einer halben Antwort.
Sie haben sich Ihr Leben lang nur mit der Schoah beschäftigt, ohne, wie Sie schreiben, Halt durch einen Gott oder eine Ideologie zu haben. Wie hält man das ohne Depressionen aus?
Man muss die Gefühle zurückdrängen, um klar diese Tatsachen feststellen zu können: Man hat ein Stück Papier in der Hand, muss lesen, verstehen, wer wem schreibt. Es geht um das Datum, den Sachverhalt und so weiter. Das sind sehr konkrete Fragen. Gefühlsmäßig bekommt man keine Antworten.
Haben Sie sich geschützt vor Gefühlen, indem Sie vor allem bürokratische Vorgänge beleuchtet und die Täterperspektive gewählt haben?
Nein, sondern weil nur der Täter, nicht das Opfer wusste, was am nächsten Tag geschehen würde. Die Täter waren ausschlaggebend. Man kann nicht mit der Reaktion anfangen.
Ihr Buch „Täter, Opfer, Zuschauer“ durchzieht Sarkasmus – ist er ein Schutz, um das Unsägliche beschreiben zu können? An einer Stelle schreiben Sie, man könne ja nicht 1.000 Seiten lang schreien.
Das ist nicht sarkastisch. Aber es ist schon so, wie Sie vielleicht an meinem Akzent erkennen, dass ich in Wien geboren wurde. Das war ein Milieu, wo fast jeder vielleicht nicht sarkastisch, aber doch ironisch war. Das ist unbewusst, keine Strategie des Schreibens.
Den Juden kreiden Sie in Ihren Büchern an, dass ihr Widerstand gegen die Schoah nur eine Ausnahme war, ja dass viele „Judenräte“ bei der Vernichtung mitmachten. Die Alliierten kritisieren Sie, weil sie fast nichts dagegen taten. Den ganz normalen Deutschen werfen Sie vor, ganz überwiegend die Schoah gewollt zu haben. Hat es so lange gedauert, bis Ihr Werk die gebührende Anerkennung gefunden hat, weil Sie sich so viele Feinde gemacht haben?
Nein, ich habe eigentlich niemandem irgendetwas vorgeworfen. Ich habe die Tatsachen so beschrieben, wie ich sie sah. Ich warf den Juden nicht vor, dass sie keinen Widerstand leisteten. Sie haben ihn aus strategischen Gründen vermieden: Sie wollten nicht etwas tun, was noch Schlimmeres hervorrufen könnte. Ebenso habe ich die Täter nicht angeklagt, sondern ihre Taten sachlich beschrieben. Genauso war es mit den Alliierten, die ihre Gründe hatten für das, was sie taten und nicht taten. Es ist schwer zu sagen, sie hätten dieses oder jenes versuchen sollen, denn damals sahen sie in solchen Versuchen keinen Erfolg.
Warum enthalten Sie sich einer moralischen Wertung?
Ich wollte diese moralischen Urteile so fern halten, da ich mit den Tatsachen befasst war. Natürlich werten wir diese Dinge, ziehen wir Schlüsse. Und natürlich war das Ende der Tod von über fünf Millionen Menschen. Wenn es allerdings um ein heutiges politisches Handeln geht, kann ich jemanden kritisieren. Aber nicht, wenn es um die Vergangenheit geht und es notwendig ist, das Geschehen klar zu sehen.
Haben das lange Warten auf die Veröffentlichung Ihres Hauptwerks, „Die Vernichtung der europäischen Juden“, Ihre mühsame akademische Karriere – Ihr Doktorvater prophezeite Ihnen Ihren „Untergang“, als Sie sich diesem Thema verschrieben – …
Ja.
… haben das und die harten Kämpfe zur Frage der „Judenräte“ Sie verbittert? Sie deuten das in Ihrer Autobiografie an.
Ja, man ist ein Mensch. Also gut, es war nicht so schlimm, wie man glaubt, aber ich hatte große Schwierigkeiten. Ich war in einer Lage, mich selbst zu fragen: „Soll ich das fortsetzen?“ Und ich habe es fortgesetzt! Das ist die Antwort. Ich habe manche Rückschläge nicht erwartet – aber auch nicht den Geschwister-Scholl-Preis. Auch das heutige Deutschland konnte ich mir damals gar nicht vorstellen.
Sie sind also eher positiv überrascht.
Ja, manchmal glückt einem das.
Ihr erstes Buch schildert den bürokratischen Prozess der Schoah. In „Täter, Opfer, Zuschauer“ beschreiben Sie die beteiligten Personen. Nun, in Ihrem letzten Buch, kehren sie zurück zu den Quellen und der Methode ihrer Entschlüsselung. Gleichzeitig sagen Sie, dass dies Ihr letztes Buch sei …
… nein, das sagen mir die Leute, die mich ausfragen. Sehen Sie, ich bin 76 Jahre alt, ich arbeite sehr langsam. Sie können sich ausrechnen, dass ich kein großes Buch planen kann ohne Gedanken daran, ob das nicht im Nachlass veröffentlicht wird – wenn überhaupt. Ich habe keine Pläne. Allerdings arbeite ich für einen US-Verlag an einer Erweiterung des ersten Buches. Was dann noch möglich sein wird, weiß ich noch nicht.
Gibt es eine Lehre aus der Schoah? Und wenn ja, aus welcher Perspektive lernen wir mehr: aus der Opfer- oder aus der Täterperspektive?
Ich lerne mehr aus der Perspektive des Täters. Was wir lernen von diesem Passus der Geschichte? Diese Frage stellte ich einem meiner besten Studenten, einem US-Soldaten. Er sagte: „Was ich, in einem Satz, gelernt habe: Alles wäre möglich.“ Das ist eine sehr ernste Antwort.
Sie deuten in Ihrem Buch an, dass Sie Hoffnungslosigkeit prägt: Heißt das, dass Völkermorde nicht zu vermeiden sind? Dass wir aus der Schoah nichts gelernt haben?
Wir haben es unlängst nicht in Ruanda vermieden. Jeder kann sich noch an diesen Völkermord erinnern. Man verdrängte ihn, man beachtete ihn nicht. Warum? Weil es in Afrika war. Warum beachtete man die Schoah nicht? Weil es Juden waren.
Ist das nicht frustrierend: Sie beschäftigen sich Ihr ganzes Leben damit, und man zieht keine Lehren daraus?
Wenn man moralisch handeln will, muss man sich fragen: Wie reagiere ich, wenn so etwas – manchmal unerwartet, vielleicht in Afrika oder wo auch immer – geschieht? Das sollte der Präsident der Vereinigten Staaten sich gefragt haben. Er hat es nicht getan. Darin sehe ich einen moralischen Fehler.
Wenn ein zehnjähriges Mädchen sagte, Hitler war böse – würden Sie widersprechen?
Man kann Hitler so nennen – oder anders. Was er tat, war in den Augen aller Leute heute ziemlich böse. Auch wenn Witze hier nicht angebracht sind, könnte ich ein ganzes Buch schreiben über den guten Führer, der sein eigenes Geld verschiedenen Leuten geschenkt hat, der darauf achtete, dass Familien zusammenblieben – über vieles andere, was er – in Anführungszeichen – „geleistet“ hat. Es kommt wieder auf die Perspektive an. Aber weil dieser Mann nur an Vernichtung dachte, ist natürlich überragend eine Frage: Wie böse kann ein Mensch sein? Diese Antwort haben wir.
Sind überhaupt diese Kategorien „gut“ und „böse“ sinnvoll? Helfen sie weiter?
Für mich nicht. Das Geschehene ist jenseits des Guten und Bösen.
Bald werden alle Schoah-Überlebenden gestorben sein: Wie kann man für die Generation der heutigen Kinder die Erinnerung an die Schoah bewahren?
Es ist schade, aber wohl erst wenn alle Überlebenden gestorben sind, wird man von ihnen befreit werden. Denn wenn sie jetzt reden, darf man sie nicht kritisieren. Weil sie dort waren und wir nicht. Was immer sie sagen, ob es richtig ist, unrichtig, ob es komplett ist oder nicht – wir hören zu. Wenn sie ausgesagt haben, wenn sie nicht mehr da sind, kann man sagen: „Okay, sie haben sich nicht gut erinnert. Sie haben uns nicht das Ganze erzählt. Sie waren nicht der richtige Querschnitt. Denn wenn sie überlebt haben, kann man sie nicht mit den Untergegangenen vergleichen.“ Jetzt ist es noch ein bisschen früh.
Also werden wir erst, wenn alle gestorben sind, einen Erkenntnisgewinn haben?
Wir werden neue Fragen stellen. Es ist wie mit den Tätern: Wann hat man hier in Deutschland eigentlich angefangen, über die Schoah zu reden? Erst nachdem die Täter entweder gestorben waren oder im Altersheim ihre letzten Jahre verlebten.
Uns geht auch viel verloren: die unmittelbare Erfahrung der Schoah-Überlebenden.
Ja, etwas muss eingebüßt werden. Ich bin alt genug, um mich zu erinnern, wie die Leute damals Deutsch sprachen oder wie vielleicht ihre Gedankengänge waren. Wenn meine Generation in einigen Jahren nicht mehr da sein wird, wird diese Vorstellung verschwunden sein: Man kann nicht einfach in einem anderen Jahrhundert leben.
Manchmal bin ich froh, dass diese Generation stirbt: Endlich sind auch alle Nazis weg.
Sie sind erleichtert? Ich bin nicht dafür, dass irgendjemand stirbt. Es ist ein normales Ende jedes Menschen. Aber ich wünsche niemandem einen frühen Tod. Denn das ist etwas, was in meinem Alter erwartbar wäre.
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