: Der Maghreb ist wichtiger
aus Paris DOROTHEA HAHN
Ein ehemaliger französischer Staatspräsident war nötig, um die alte Schulbuchweisheit aufzufrischen: „Die Türkei ist kein europäisches Land.“ Der Vorsitzende des EU-Konvents, Valéry Giscard d’Estaing, der den Satz Anfang November, direkt nach einem Treffen mit dem Papst, sagte, trat damit eine Debatte los. Sie zeigte, dass es in Frankreich keinerlei Enthusiasmus für eine türkische EU-Mitgliedschaft gibt. Dass die Trennlinien zwischen Gegnern und Befürwortern quer durch alle Lager verlaufen. Und dass selbst jene, die einen türkischen EU-Betritt befürworten, dies negativ begründen. Ohne die EU würden die Islamisten, die Militärs oder die USA an Einfluss gewinnen, argumentieren sie. Am Ende sprach der jetzige Staatspräsident ein Machtwort. Zusammen mit Gerhard Schröder wünscht Jacques Chirac den Beginn der Beitrittsverhandlungen ab dem 1. Juli 2005.
So ist es seit knapp vier Jahrzehnten, wenn es um die Türkei geht: Wer in Paris in Amt und Würden ist, stellt dem Land am Bosporus eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht. Wer auf den hinteren Bänken sitzt, sieht das kritisch.
1963 stellte die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, die Vorgängerin der EU, fest, die Türkei habe eine „europäische Bestimmung“. Damals war Paris fest in rechter Hand. Auch der rechtsliberale Giscard hielt als Staatspräsident von 1974 bis 1981 an dieser prinzipiellen Linie fest. Im November 1999 wiederholte die EU die Erklärung über die EU-Bestimmung der Türkei feierlich. Da regierte in Paris eine rot-rosa-grüne Regierung. Heute jedoch stellt Exaußenminister Hubert Védrine fest: „Die Evidenz, der gesunde Menschenverstand und die Geografie hätten ausreichen müssen, um der Türkei 1963 eine enge Beziehung zur EU, aber keine Mitgliedschaft anzubieten.“ Damit hätte man sich „fragwürdige kulturelle und religiöse Argumente“ ersparen können. Nun aber müsse dringend „eine Klarstellung“ über die „politische“ und die „territoriale Identität der Union“ erfolgen, schrieb Védrine in der Zeitung Le Monde.
Sechs Monate nach dem Ende seiner Amtszeit schlägt Védrine der EU vor, ihre Erweiterungen auf 27 Mitglieder zu beschränken und den anderen Ländern eine „strategische, politische und wirtschaftliche Nachbarschaft“ anzubieten. Als Kandidaten nennt er: Russland, Ukraine, Türkei, die nordafrikanischen Maghreb-Länder sowie Israel und Palästina.
Unterdessen spricht der jetzige Außenminister, der konservative Dominique de Villepin, bereits von einer künftigen EU mit 34 Mitgliedsstaaten, wozu „natürlich“ auch die Türkei gehören werde.
Frankreich ist seit Jahrzehnten wirtschaftlich in der Türkei engagiert – jedoch deutlich hinter Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien und den USA. Frankreich hat auch einige wenige türkische Einwanderer im Land. Viel enger ist es – sowohl kulturell als auch wirtschaftlich – mit dem Maghreb verbunden. Aus Marokko, Algerien und Tunesien stammen auch die meisten Einwanderer in Frankreich. Vor diesem Hintergrund liefert der Figaro ein paar Zahlen zur Erklärung für die türkeifreundliche Position des Bundeskanzlers. „Heute gibt es in Deutschland 471.000 türkische Wähler, im Jahr 2006 werden es eine Million sein. Die meisten wählen sozialdemokratisch.“
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