Was soll denn das Theater?

In Deutschland gibt es rund 150 öffentliche Theater mit festem Ensemble - und mit Geldsorgen. Nun gilt es, sich aus der ewigen „Opferrolle“ zu befreien

von RALPH BOLLMANN

Drei Stunden lang haben sie geliebt und gemordet, Krieg geführt und Niederlagen davongetragen. Jetzt endlich, die Uhr geht schon auf halb elf, tritt Julius Caesar als strahlender Sieger wieder auf die Bühne. „Das Bangen hat ein Ende“, jubelt nun selbst Cornelia, die Witwe seines alten Widersachers Pompejus. Caesar krönt die Ägypterin Cleopatra zur Königin ihres Landes – und wird, in der Gestalt des englischen Sängers Denis Lakey, vom Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert.

Wo spielt sich diese Szene ab? In Covent Garden? An der Met? Auf der Bühne der Mailänder Scala? Weit gefehlt: Die Opernfreunde Quedlinburgs haben sich an diesem Adventsabend in ihrem Theater eingefunden, um die Premiere von Händels „Julius Caesar“ zu bejubeln. Gerade mal 25.000 Einwohner zählt die Stadt am Nordrand des Harzes, und ganze 284 Zuschauer passen in den schmucklosen Theaterbau am Rand der Quedlinburger Altstadt mit ihren weltberühmten Fachwerkhäusern.

Doch während die Unesco das Fachwerk längst zum Eigentum der Menschheit erklärt hat, fehlt auf dieser Liste des bedrohten Erbes ein einzigartiger kultureller Schatz, den nur der deutschsprachige Raum hervorgebracht hat: Rund 150 öffentliche Theater mit festem Ensemble für Schauspiel, Musiktheater oder Ballett gibt es allein in der Bundesrepublik, die Bühnen in Österreich und der Schweiz kommen hinzu. Selbst die aufwändigste und teuerste aller Kunstformen, die Oper, leisten sich die deutschen Länder und Kommunen stolze 80-mal.

Aber diese Vielfalt gibt es womöglich nicht mehr lange. Heute nimmt Bundespräsident Johannes Rau (SPD) den Bericht einer Arbeitsgruppe in Empfang, die in seinem Auftrag das System der deutschen Stadt- und Staatstheater durchleuchtet hat. Mehr Autonomie und weniger Bürokratie fordern die Autoren der Studie, und der Präsident nahm sich schon in seinem Aufruf zu einem „Bündnis für Theater“ den ersten aller Schauspieler zum Vorbild, den Griechen Thespis: „Lassen Sie uns den Thespis-Karren gemeinsam an der Deichsel nach vorne ziehen und nicht von hinten in einer Umklammerung festhalten.“

Ähnlich wie bei den Zeitungen sind an der Krise nicht die Konsumenten schuld. Rechnet man den Effekt von Theaterschließungen heraus, kommen die Zuschauer sogar zahlreicher denn je: Bei einem jährlichen Andrang von mehr als 22 Millionen Zuschauern können die Bühnen locker mit den Fußballstadien konkurrieren (siehe Kasten). Doch kommen die Besucher mit ihren Eintrittsgeldern nur für einen Bruchteil der Bühnenetats auf. Den Rest bezahlt die öffentliche Hand, die ihre Finanzprognosen derzeit fast im Wochenrhythmus nach unten korrigiert.

Gerade den gebeutelten Kommunen bleibt kaum etwas übrig, als die Kürzungen auch an die Theater weiterzureichen. Dort aber führen selbst kleinste Einbußen zu größten Lücken im Programm, weil die Intendanten an nichts anderem, als an den befristet engagierten Künstlern sparen können. Hingegen behält das Personal in Technik und Verwaltung selbst dann den Anspruch auf lebenslange Beschäftigung, wenn sich der Vorhang eines Theaters gar nicht mehr hebt.

Schlimmer noch als Beschäftigungsgarantie und automatische Gehaltssteigerungen ist ein kompliziertes System von Privilegien, das den Theateralltag unnötig teuer macht. Da werden Orchestermusiker für Aushilfsdienste in anderen Theatern eigens bezahlt – obwohl der Arbeitgeber, die öffentliche Hand, doch überall derselbe ist. Da haben Bühnenarbeiter Anspruch auf spezielle Abend- und Nachtzuschläge – obwohl das Theater doch ohnehin nur abends spielt.

Jahrelang haben die Intendanten das Publikum nur mit Gejammer behelligt, jetzt hat einer von ihnen die Initiative ergriffen. Am Weimarer Nationaltheater will Stephan Märki zeigen, dass man eine Bühne retten kann, indem man den Tarifdschungel zurechtstutzt – und die Theater „von der Opferrolle befreit“ (siehe unten). Gespannt verfolgt die Theaterszene das Experiment, denn alle Beteiligten wissen: Mehr Geld wird es in Zukunft nicht geben. „Wir müssen akzeptieren, dass der finanzielle Rahmen eng ist“, sagt auch Theaterfreundin Antje Vollmer.

Nur wenn der Weimarer Versuch gelingt, wird das Wunder des deutschen Provinztheaters in künftige Jahrzehnte hinüberzuretten sein, das Wunder jener prunkvollen Hoftheater, in denen Provinzpotentaten einst die kulturellen Wonnen der deutschen Kleinstaaterei auskosteten, und jener wuchtigen Stadttheater, die das Bürgertum einst zum Zweck der Selbstdarstellung schuf. Nur dann wird es noch solche Feste geben wie eine Aufführung von Wagners Ring in der Südthüringer Kleinstadt Meiningen.

Für die Kulturnation sind jene kleinen Häuser vielleicht noch wichtiger als die großstädtischen Theater mit ihrem elitären Betrieb, der vielerorts längst austauschbar geworden ist. Wer zwischen den Metropolen hin- und herfährt, der reist bloß den immergleichen Regisseuren und Schauspielern, Sängern und Dirigenten hinterher. Nur in der Provinz lebt noch die deutsche Tradition des Ensembletheaters, wo die örtliche Primadonna in allen Paraderollen von Mozart bis Puccini zu erleben ist, wo das Publikum den Verwandlungen seiner Schauspieler nacheifert.

Gewiss, das Orchester ist dann manchmal nicht so perfekt und das Publikum nicht immer ganz so kenntnisreich. Da wundert sich beim Quedlinburger „Caesar“ schon mal eine ältere Dame über die helle Stimme des Hauptdarstellers, weil sie noch nie einen Countertenor gehört hat. Aber geklatscht hat sie dann trotzdem.