Familie, Kaffeetisch und Krieg

Michael Kuball hat aus Privatfilmen des letzten Jahrhunderts eine abendfüllende Alltagsgeschichte zusammengestellt: Am Donnerstag stellt er die Kompilation „Soul of the Century“ im Metropolis vor

Wenn Nudelfabrikant Wüstner aus Lichtenstein bei Chemnitz im Kreise der Familie filmte, zeigte man sich fidel und unbeschwert. „Nicht so steif!“ rief der Hobby-Filmer, und alle hüpften gehorsam auf einem Bein. Das war am Anfang des 20. Jahrhunderts, und der Besitz einer Kamera war eine ganz große Sache. Ergo: Die Produkte kamen echten Kostbarkeiten gleich. Bewegte Bilder fingen das Leben ein und konservierten das meist ganz private Glück der Filmemacher.

Michael Kuball hat sich auf die Suche nach solchen intimen Momenten gemacht. In seiner Dokumention Soul of a Century montierte er Filmfragmente von 39 Privatfilmern, die in der Mehrzahl Amateure waren. Von 1918 bis in die 80er Jahre liefern die Szenen eine Geschichte des Privatlebens, eine Archäologie des Alltags, die durch Off-Kommentare einiger Filmemacher oder deren Angehöriger noch angereichert wird. Und das im positiven wie im negativen Sinne: Die „Wonnen“ des Familienlebens (die Liesl, der Franz und die Gänseblümchen) werden durch die Erzählungen noch bunter, noch plastischer. Campingfreuden, 1936 aufgenommen, lassen sich um so besser nachvollziehen, wenn erzählt wird, wer das Niespulver in den Wagen getan hat – und wie derjenige selbst am meisten niesen musste.

Doch gerade diese Nähe wird manchmal unerträglich: Etwa wenn man der Verwandten eines Bäckers aus Dachau dabei zuhören muss, wie sie herzlich lachend von den Torten während des Krieges schwärmt – für die das Mehl aus dem KZ angeliefert wurde: „Die schönen Torten im Krieg! Wenn wir in Dachau waren, sind wir immer gut genährt zurückgekommen.“

Überhaupt, KZ: Unglaubliche Bilder sind Kuball zugegangen, zum Beispiel der einzige Film vom Konzentrationslager Dachau vor der Befreiung durch die Alliierten. Aufnahmen von der Vereidigung des letzten Aufgebots an der Ostfront, gefilmt von einem der jungen Rekruten. Von Bomben getroffene Häuser in Köln, gedreht von einem Nachbarn im obersten Stock. Französische Flüchtlinge, deren Hühner von deutschen Soldaten gestohlen werden.

Solche Dokumente sah man damals in keiner Wochenschau – und heute in kaum einem Dokumentarfilm: In Soul of a Century geht es um Menschen, die in der medialen Öffentlichkeit normalerweise keine Stimme haben. Kuball hat diese Stimmen auch dann sprechen lassen, wenn sie Unbehagen verursachen.

Die Filme und Erzählungen sind ethnographische Fundstücke, und Kuball hat sie klug, meistens kontrastreich und stets verblüffend zusammengefügt. Nicht immer sind jedoch seine eigenen Kommentare nachvollziehbar. Ein Beispiel: Dem Filmer der im Krieg gefangenen Armée d‘Afrique bescheinigt er „Mitgefühl“ – wo die Bilder von tanzenden Schwarzen ebenso gut als Exotismus verstanden werden könnten. Ein wenig atemlos wird man schon beim Ansehen der schnellen Abfolge von unfassbaren Bildern: immer neue Familien, immer neues Glück und immer neues Leid. Aber das bisschen Atemnot ist der Film wert – er gibt uns dafür ein Stück Alltagsgeschichte des letzten Jahrhunderts. Katrin Aue

Donnerstag, 21.15 Uhr (Einführung: Thomas Tode, Gast: Michael Kuball), Metropolis