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Keine Frage der Ehre

Der Weg nach Europa (5): Die Mitgliedschaft in der EU ist für die türkischen Eliten zu einer Obsession geworden – doch entscheidend ist das Engagement der Zivilbevölkerung

Die polnische Zivilgesellschaft zweifelte nie daran, dass ihr Europa gestohlen wurde

An der Frage, ob die Türkei in die EU aufgenommen werden sollte, scheiden sich die Geister. Argumente dafür und dagegen gibt es viele. Einerseits befürchtet man Islamisierung und Überfremdung, offene Grenzen zu Asien und durch die Masse der Migranten Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Andererseits hofft man auf Verjüngung des vergreisten Europa und verspricht sich Dynamisierung samt sicherer Renten. Punkte „dafür und dagegen“ könnte man ad infinitum fortsetzten, ohne am Ende zu einer endgültigen Klarheit zu gelangen. Mit bewundernswerter Beharrlichkeit wird die Zukunft in Europa verplant und dadurch quasi domestiziert. Die Vermutung, dass Planung an die Stelle des toten Gottes getreten ist, liegt nahe. Doch Gott war bekanntlich nur kurze Zeit obdachlos, dann baute man ihm schöne Häuser und ließ ihn für seine Diener, oder umgekehrt: seine Diener für ihn, gut verdienen.

Die Kirche der Zukunftsplaner ist die Eurobürokratie, und ihrer sind die Richtlinien. Zugegeben, das Projekt funktionierte immer erstaunlich gut, zumal es den Zusammenhalt des Westens im Kalten Krieg untermauerte. Dann lösten sich die bewährten Fronten auf: Neue Konflikte, neue Herausforderungen traten in den Vordergrund. Nur die Richtlinien änderten sich nicht. Dabei fragt sich längst, inwieweit ihre lobenswerte Beständigkeit noch der Realität der Beitrittsländer entspricht. Die Projektion der vergangenen Erfahrungen auf die Zukunft bringt nicht viel. Die Vergleichsautomatik „Es hat in Portugal funktioniert, es wird auch in der Türkei klappen“ ist nur ein rhetorisches Hilfsmittel gegen die Skepsis der Gegner.

Der Ausgang ist in alle Richtungen offen. Ob es klug ist, nach all den welthistorischen Veränderungen die rigiden und manchmal nur formalen Kriterien unverändert anzuwenden, diskutieren die Europäer nicht. Dabei werden substanzielle Debatten über fast alle kritischen Fragen der EU-Erweiterung verhindert und dem durchaus interessegeleiteten Prozess jene merkwürdige Fatalität verliehen, von der der Einzelne sich überwältigt fühlt. Dem Fatum liegt die Selbstermächtigung der Apparate zugrunde, die nicht mehr verhandelbar scheint. Es nimmt wenig wunder, dass außer den zweckoptimistischen Bürokraten und Experten niemand in Europa die EU-Erweiterung wirklich will, von der Aufnahme der Türkei ganz zu schweigen. Daher das Unbehagen, das einen beschleicht, wenn in diesem Kontext von der Türkei die Rede ist.

Die türkische Elite scheint indes eine regelrechte Obsession mit der EU entwickelt zu haben. Der Beitritt wurde zur Frage der männlichen Ehre erhoben, was bedeutet, dass die Verweigerung des Beitritts als Entehrung wahrgenommen wird.

Über den Islam weiß niemand genau Bescheid, aber man kann sich gut vorstellen, wie ein derart mächtiges Land wie die Türkei in der EU um ihre Ehre kämpfen würde. Die EU hat die Richtlinien, die Türkei die Obsession. Die Richtlinien sind ein bürokratisches Regelwerk, mit dem die Kandidaten formal nach ihrer Kompatibilität beurteilt werden.

Nur eines ist sicher: Wer sich bis zu den Aufnahmekriterien hocharbeitet, ist schon Europäer. In manchen Fällen ist überhaupt nicht klar, warum die erfolgreich Demokratisierten noch der EU beitreten sollen. Die Bevölkerung Estlands ist zum Beispiel mehrheitlich dagegen und verspricht sich davon eher Nachteile als Vorteile. Die Elite aber will die Gelegenheit nicht versäumen, im edlen Klub neben den Großen zu sitzen: So viel Ehre muss sein. Tatsächlich sind kleine Staaten wie Estland mit einer Bevölkerung von 1,5 Millionen in der EU gut aufgehoben und die Vorurteile unbegründet. Man stelle sich jedoch vor, die Türkei habe sich in zehn Jahren so weit modernisiert, dass auch sie die Aufnahmekriterien erfüllt. Das bevölkerungsreiche Land mit 100 Millionen Einwohnern, einer vitalen und auf den Erfolg stolzen Jugend soll seine Souveränität an die vergreiste EU abgeben, um in den europäischen Großstädten Sozialhilfe beziehen zu dürfen?

Wäre das Land sozialökonomisch fit, könnte es die EU mit anderen Augen betrachten. Die Obsession mit Europa kommt daher, dass die Elite angesichts der inneren Probleme daran zweifelt, ob es ihr gelingt, die Modernisierung durch die Mobilisierung der inneren Kräfte voranzutreiben. Sie verlangt nach einem äußeren Antriebswerk: Das ist ein Symptom der Entfremdung, der tiefen Kluft zwischen der Elite und der Bevölkerung. Ähnlich wie in Russland wurde die Zwangsmodernisierung in der Türkei ohne die Gesellschaft beziehungsweise auf deren Kosten durchgesetzt. Anscheinend aber enthielt sie einen selbstblockierenden Mechanismus, der immer dann ansprang, wenn die Veränderungen, woher sie auch kamen, die gesellschaftliche Krise verschärften und die Identität der Bevölkerung in Frage stellten. Die Hoffnung, die konstruktiven Kräfte durch das Versprechen der EU-Mitgliedschaft zu stärken, ist daher verständlich. Zugleich ist Skepsis angebracht, ob der Magnet Europa die gesellschaftlichen Kräfte wie Eisensplitter so mächtig aufeinander zutreiben lässt, dass die Türkei Europa wird. Die Anpassung der Verfassung und andere gesetzliche Schritte in die EU-Richtung sind große Kraftakte und starke Signale. Die Elite bekündet damit ihren unbedingten Willen zum Europa. Aber die Verfassung kann die Gesellschaft vereinigen oder sie spalten. Die Gesetze können auf dem Papier bleiben,wenn deren Vollzug von Institutionen und Interessengruppen blockiert wird. Die Modernisierung von oben ist auf halber Strecke geblieben, die Modernisierung von außen, durch die bloße Übernahme demokratischer Formalitäten und das Bekenntnis zu den Werten, hat noch in keinem Land richtig funktioniert.

Der Vergleich mit den osteuropäischen Staaten, die bald aufgenommen werden und für die das Datum des Beitritts eine mobilisierende und disziplinierende Rolle spielte, würde nicht unbedingt der Türkei in ihrem Drängen auf den Termin Recht geben. Denn diese Staaten würden selbst ohne den Fetisch des Datums früher oder später die Anpassung schaffen. Sie blieben unter den Sowjets europäisch. Polen, um beim größten Land zu bleiben, hatte eine starke Zivilgesellschaft: oppositionelle Kirche und Solidaność; alle hassten die Sowjetunion und zweifelten nie daran, dass ihnen Europa gestohlen wurde. Der Wille, nach Europa zurückzukehren, war ein stärkeres Stimulans als das Beitrittsdatum. All das hat die Türkei nicht. Ihre Aufgabe ist viel schwieriger: Sie muss das innere Europa aus eigener Kraft begründen. Unter „sie“ versteht man aber nicht die Machtelite, sondern ebendiese Zivilgesellschaft, wie abgenutzt und ungenau dieser Begriff auch sein mag.

Kein Wunder, dassaußer Bürokraten und Experten niemandin Europa die EU-Erweiterung will

Die Türkei hat gute Chancen, diese Aufgabe zu meistern. So ist der Durchbruch eben doch keine Frage der Ehre, sondern der Arbeit und des Engagements, die früher oder später Früchte tragen. Dass die Türken hervorragend arbeiten können, ist den wohlstandsmüden Europäern nicht entgangen.

SONJA MARGOLINA

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