: Vernichtung von Humankapital
Wer eine Frau, über 40 oder arbeitslos ist, hat kaum Chancen auf einen Job in der IT-Branche. Denn deren Klagen über Fachkräftemangel war nichts als politische Taktik
Noch immer ist die Diskussion über die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland von einem Widerspruch geprägt. Einerseits erreichen uns fast täglich neue Hiobsbotschaften von gestiegenen Arbeitslosenzahlen. Andererseits finden sich – inzwischen etwas leiser – in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen Verlautbarungen von Konzernchefs, Verbänden und Politikern, die den drückenden Mangel an Fachkräften sowie das frühe Renteneinstiegsalter von Arbeitnehmern beklagen. Die aktuell gehandelten Zahlen über den Fachkräftemangel entsprechen zwar einem tatsächlichen Mangel, haben aber vor allem einen praktischen Zweck: Politik zu machen, den Arbeitsmarkt für IT-Fachkräfte so weit zu deregulieren, dass je nach Quartals- oder Jahresbedarf Fachkräfte importiert werden können und damit gleichzeitig die Ansprüche der derzeit Beschäftigten maßvoll bleiben.
Die Einstellpraxis der Firmen und insbesondere der Großkonzerne straft die Behauptung vom Fachkräftemangel Lügen. Denn die Arbeitgeber sind ausgesprochen wählerisch, was ihr Personal angeht. Nach allen Erfahrungen verfahren die Personalabteilungen streng schematisch nach Checklisten, die – gleiche Qualifikationsnachweise und Noten vorausgesetzt – nach Berufspraxis (nicht zu viel, weil sonst zu teuer und nicht mehr biegsam) und nach Alter und nach Geschlecht selektieren. Bewerber oder Bewerberinnen Anfang 40 haben in der Regel keine Chance mehr, auch wenn sie nicht nur ein einschlägiges Studium mitbringen, sondern auch einen lückenlosen Lebenslauf mit internationaler Erfahrung als Projektleiter bei SAP-Projekten. So geschehen bei einem süddeutschen Autohersteller. „Sie sind mit 41 für unsere EDV-Abteilung zu alt“, bekam dort ein Bewerber zu hören.
Allgegenwärtig ist in der IT-Branche die Altersdiskriminierung: Firmen suchen vorzugsweise Hochschulabsolventen mit maximal drei Jahren Berufserfahrung, möglichst zwei Abschlüssen und am besten auch noch einem Jahr Auslandserfahrung. Jung, männlich, ungebunden – das ist der ideale Bewerber. Eine Chance hat auch noch, wer gerade bei einer anderen Firma genau das Gesuchte tut – zum Beispiel eine Datenbankanbindung in einer bestimmten Sprache realisieren. Der wird dann abgeworben und kann sofort produktiv eingesetzt werden. Denn längere Einarbeitungszeiten kosten nur. Eine Industrie beziehungsweise IT-Abteilungen, die wirklich händeringend Fachkräfte suchten, könnten es sich nicht leisten, auf Fachkräfte jenseits der 40 zu verzichten. Aber die werden nicht nur nicht eingestellt, sondern gezielt mit allen möglichen Programmen aus den Firmen gedrängt.
Qualifizierte Frauen haben es besonders schwer. Nicht nur der Familienwunsch ist ein Handikap, sondern die Männerdominanz auf allen Managementebenen, die wie ein geschlechtsspezifischer Einstellungsfilter wirkt. So scheiterte eine Ingenieurin mit BWL-Zweitstudium schon am Personalsachbearbeiter eines Baukonzerns und bekam postwendend eine Absage. Als sie später doch einen Job fand und dann im Auftrag der neuen Firma beim Vorstand des Baukonzerns präsentierte, erklärten die Chefs erstaunt: „Warum finden wir keine Mitarbeiterinnen wie Sie?“
Altersdiskriminierung und die Benachteiligung von Frauen in technischen Berufen entspringen nicht einfach der Borniertheit von Managern, sondern haben einen handfesten Kern: Die Megaarbeitszeiten gerade in der IT-Branche sind nichts für eine langfristige Vereinbarkeit von privater und beruflicher Zukunft. Menschen mit ausgeprägten Interessen jenseits des Berufs und mit dem Wunsch nach einigermaßen geregelten Arbeitszeiten sind in der IT-Branche fehl am Platz. Aussagen wie: „IT ist wie das Gastgewerbe – keiner hält es lange aus!“, oder: „IT ist ein anderes Wort für Stress“, fallen immer wieder in Diskussionen. Anders gesagt: IT-Jobs sind nach derzeitigem Stand meist keine Jobs für ein ganzes Berufsleben oder für Arbeitnehmer, die ein Familienleben führen möchten. Wer hier einsteigt, will schnell viel verdienen, um sich mit 35 oder 40 sinnvollerweise nach einer anderen Branche umzusehen.
Dieses Image wirkt nicht gerade attraktiv auf zukünftige Studierende, die sich für einen Berufsweg entscheiden. Damit produziert die Branche durch ihre Personalpolitik zum guten Teil den von ihr beklagten Fachkräftemangel selbst. Übrigens bestätigen verschiedene US-Untersuchungen unter IT-Fachleuten wie unter Collegestudenten diese Thesen.
Die in den letzten zwölf Monaten praktizierten Entlassungen im IT-Sektor und die dabei praktizierten Methoden sind ein weiterer Beleg dafür, dass es mit dem akuten Fachkräftemangel nicht weit her sein kann: Der Halbleiterhersteller Infineon kündigte hunderten von Mitarbeitern in der Probezeit (weil so am schnellsten die Kosten gesenkt werden), nachdem sie gerade für teures Geld und teilweise mit Prämien an- und abgeworben worden waren. Infineon zog sich damit auch den geballten Zorn der Konkurrenz zu, die mit gutem Grund um den Nachschub an künftigen Fachkräften fürchtet. Bei SAP, Oracle, Siemens et cetera wird systematisch in den Bereichen ein gewisser Prozentsatz so genannter Minderleister aufgespürt, die mit dem nötigen Druck zum Verlassen der Firma genötigt werden sollen. Solche Methoden zerstören langfristig das Klima im Unternehmen und sind ebenfalls nicht gerade ein Zeichen für die systematische Pflege der gar so knappen Fachkräfte.
Wie steht es mit der Weiterbildung? Angesichts des behaupteten akuten Fachkräftemangels müsste betriebsinterne Weiterbildung eigentlich hoch im Kurs stehen. Qualifikationsanforderungen in Projekten ändern sich. Was liegt da näher, als die mit den betrieblichen Prozessen und mit den Kundenanforderungen vertrauten MitarbeiterInnen per Weiterbildung auf den neuesten Stand der Technik zu bringen? Die Zahlen sprechen leider eine andere Sprache: Personalabbau statt Fortbildung ist das bevorzugte Instrument der Personalentwicklung. Nach einer Untersuchung der Unternehmensberatung Meta Group haben deutsche IT-Unternehmen 1995 jeden Beschäftigten noch 12,5 Tage pro Jahr geschult, im Jahr 2000 waren es nur noch 8 Tage.
Offensichtlich kann sich unsere Gesellschaft auf Dauer die betriebsblinde und sehr kurzfristige Personalpolitik der IT-Branche – und hier vor allem der Großfirmen– nicht weiter leisten. Derzeit findet eine riesige Verschwendung und Vernichtung gesellschaftlicher Ressourcen, von Humankapital, statt. Es ist unerträglich, wenn Wirtschaftsbosse, Lobbyisten und Politiker in Sonntagsreden und bei Messeeröffnungen vom Fachkräftemangel reden und die demografische Notwendigkeit beschwören, dass die Älteren künftig für die Wirtschaft gebraucht werden, wenn gleichzeitig hoch qualifizierte Beschäftigte zu tausenden aussortiert werden beziehungsweise keinen Job finden. Die ehrliche öffentliche Diskussion darüber ist überfällig.
WOLFGANG MÜLLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen