Wie man wirklich fernsieht

Von der komplizierten Nützlichkeit eines Bilderapparates für alle Lebenslagen.Ein Erfahrungsbericht aus fast sechzig Jahren

von MICHAEL RUTSCHKY

Es gibt kein richtiges Leben im falschen, die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Aber zugleich finden sich bei Adorno immer wieder – schöne – Stellen, wo er ohne Scheu vom richtigen Leben redet. So kommt er 1953 in einem gesamtkritischen Prolog zum Fernsehen – in einer Rundfunkzeitschrift veröffentlicht – auf das Versprechen, „das in dem Wort immer noch mitschwingt“. Stimmt, nicht wahr? Fernsehen – das ist eigentlich ein Märchenwort.

Was ich 1953, als Kind von zehn Jahren, als meine erste Fernsehsendung anschaute, war in der Tat eine Märchenveranstaltung, stark verschneit, wie man solche schlechten Übertragungen nannte. Etwas märchenhaft war auch der Rahmen. Wir befanden uns nämlich auf dem Schloss, einer mittelalterlichen Anlage über der kleinen Stadt, genauer gesagt: in einem der so genannten Kavaliershäuschen, eine hübsch mit Schiefer verkleidete Angelegenheit.

Hier oben, in den Unebenheiten des Mittelgebirges (die irgendwie, so stellte ich’s mir vor, die straffen Fernsehstrahlen ablenkten oder unterbrachen; eigentlich gehört das Fernsehen in die Städte der Ebenen), sollte der Empfang am besten sein. Wie Mutter es deichselte, dass wir zu den vielleicht zwanzig Leuten gehörten, die dieser Premiere beiwohnten, ich weiß es nicht.

Die Märchenveranstaltung aber, der wir auf dem mittelalterlichen Schloss im Fernsehen zuschauten: Krönung einer Königin. Elisabeth, 1952 zur Königin von Großbritannien und Irland erklärt, unterzog sich ein Jahr später in Westminster Abbey dem umständlichen Ritual, und wir sahen aufmerksam zu.

Wirklich? Man erkannte alles doch nur sehr undeutlich, immer wieder überschwemmte der Schnee der ungeordneten Impulse alle Konturen. Dass sich, wie ich mich erinnere, Mutter und Tante angelegentlich über die Tränen austauschten, die während der Zeremonie in Westminster Abbey das Gesicht der jungen Frau überströmten – vermutlich wussten sie das erst aus dem Dokumentarfilm, der wenig später in einem Kino in Kassel von der Krönung Elisabeths II. lief. Ich verstand das übrigens gar nicht, die Tränen; wäre ich zum König von Großbritannien und Irland gekrönt worden, ich hätte keinesfalls geheult.

Britisch ging die Sache denn insofern weiter, als ich zum richtigen Fernsehen eigentlich erst knapp zehn Jahre später kam, im Vereinigten Königreich. Vier Wochen verbrachte ich im Haushalt von Charles und Patricia Mander, ein Dörfchen namens Stratcholt in Somerset. Charles Mander, von Beruf Schauspieler, verdiente sein Geld als Radiosprecher, und jeden Abend, wenn er von der Arbeit heimkam, versammelte man sich vor dem Gerät, „the evil eye“, wie er genüsslich sagte, und schlemmte den Kasten leer. Dazu reichte Patricia Mander Sandwiches, die mir, während die Augen den Bilderfluss aufsaugten, köstlich in Erinnerung sind.

Eigentlich war das verboten, sich um, sagen wir: achtzehn Uhr vor den Fernseher zu setzen und alles wegzuschlabbern, bis nur noch Schnee kam. Lehrer in der Schule malten ebendies als Schreckbild der Abhängigkeit von Ungebildeten an die Wand; Fernsehen mache süchtig. Wenn man nicht kulturell wertvolle Programme auswähle, fällt man dem Bilderstrom anheim und verbringt seine Tage vor dem Kasten.

Weil Bilder nicht aktiv bedacht sein wollen – so stellte man es sich vor –, sondern praktisch von selbst eingehen, versinkt der Gehirn in Passivität. Das Fernsehen wird aus jenen Mitbürgern, die zu schwach sind, sich seinem Sog zu entziehen, eine Art von Mutanten machen – man erkennt in den kulturkritischen Befürchtungen die Analogie zum Alkohol und zur Trunksucht.

Freilich, gerade das stundenlange ungesteuerte Hingucken bei Manders in Somerset bereitete mir unzweifelhaft das allergrößte Vergnügen. Amerikanische Serien sind mir in Erinnerung („Sea Hunt“ mit Lloyd Bridges, dem Vater von Jeff), aber auch das Magazin „Panorama“ mit seinem Starmoderator Richard Dimbleby; eine Talkshow, bei der Randolph Churchill, der Sohn, tierisch betrunken war (er war wohl immer betrunken); eine Hitparade, die ein David Jacobs ansagte und in den ich richtig ein bisschen verliebt war.

Sowie die Werbespots beim kommerziellen Sender ITV, die das Programm immer wieder unterbrachen und mir, ich gestehe, als Lustaufschub besondere Lust bereiteten. „Have a break – have a Kitkat“ gab’s schon damals; eine berühmte Milchkampagne forderte: „Have a pinta milk a day“; ein Konfektionsgeschäft zeigte sein Schaufenster, dazu erklang als Gesang „John Collier – John Collier – a window to watch“. Süße Erinnerungen; nicht mit Proust’scher Madeleinequalität, deutlich genug aber: an einen schönen Sommer im Ausland, mit fremden Leuten voller Freundlichkeit. Was die Fernsehabende angeht, so könnte man meinen, sie hätten das Versprechen, welches das Wort laut Adorno trotz alledem gibt, erfüllt.

Ich bin dann aber kein TV-Zuschauer des süchtigen Typs geworden. Meine Eltern besaßen kein Gerät, weniger aus kulturkritischen Gründen denn mangels Geld. Wollte man schauen, musste man bei der Tante anklopfen und fragen, und oft wollte sie was ganz anderes sehen. Den ersten eigenen Fernseher kaufte ich 1972, tatsächlich: für die Party zur Bundestagswahl, und so spielte sich dieser selektive Konsum ein, wie ihm viele obliegen. Man guckt sich was im Programm aus – sofern man nichts anderes vorhat – und hinterher noch nach diesem und jenem, das sich anschließen lässt. Und dann kamen ja noch die Spielfilme in der Form von Videokassetten hinzu (aufzunehmen lernte ich, wie Clint Eastwood in „Absolute Power“, nie). Eine Zeit lang bestand eine gewisse Abhängigkeit von den Musikclips auf MTV; die sich aber legte.

Heute bietet mein Fernsehkonsum ein merkwürdiges Bild. Da ist einmal das Zappen am Nachmittag (das mir wunderbare Kenntnisse über die Gerichtsshows mit Barbara Salesch und Alexander Hold und Ruth Herz verschafft). Doch handelt es sich um Entspannungsübungen. Ich komme vom Arbeitstisch und kehre dorthin zurück; Fernsehen zerstreut meine Gedanken, die sich festfahren wollten. Ich könnte auch in der Wohnung herumlaufen; früher hätte ich mir die nächste Zigarette gedreht.

Auch der Fernsehabend, der jede Woche häufig vorkommt, gestaltet sich seltsam. Im Wesentlichen besteht er aus Spielfilm; Talkshows und Magazine sehe ich nie, die „Tagesschau“ und „heute“ meist ohne Ton, weil man’s morgen in der Zeitung ja doch besser liest. Was den Spielfilm angeht – pro Abend kommen ja mindestens zwei in Betracht –, so neige ich stark zu einem Genre, das mein alter Freund Theckel als „guten schlechten Film“ bezeichnet.

Bond-Filme mit Roger Moore beispielsweise, die ich mir im Kino nie anschaute, die ich aber im TV schon ein paar Mal gesehen habe. Der gute schlechte Film zeichnet sich dadurch aus, dass man nicht so richtig aufpassen muss. Tut man das, fallen einem die vielen kleinen und großen Fehler auf, und das verdirbt das Vergnügen. Für den guten schlechten Film empfiehlt sich eine Art Halbschlaf, den die Bilderfolge angenehm stimuliert und aufrechterhält. Die Sucht, die angeblich das Fernsehen erzeugt, ist eine stark gebremste Angelegenheit, ein Dämmern mit mattem Gefühlsstrom. Die Freuden meiner Fernsehabende in Somerset sind unwiederbringlich.

Das kommt auch daher, dass sich in den Fernsehabend von heute etwas einschlich, das eigentlich nicht hineingehört: Arbeit. Benutze ich TV am Nachmittag als kurzfristige Entspannungsübung, von der ich gleich an den Schreibtisch zurückkehre, so gibt es einen bestimmten Typus von Arbeiten, denen ich am besten bei einem richtigen Fernsehabend nachgehe.

Ja, ich freue mich auf den TV-Abend, weil ich mich dann dieser Art von Schreibarbeit widmen darf. Zerstreut richtet sich die Aufmerksamkeit aufs Bild, dann wieder auf meinen Text, dann wieder aufs Bild – der Witz ist, dass mich bei dieser Art von Schreiben Fernsehen davon abhält, unbedingt weiterschreiben zu wollen. Erst wenn der nächste Satz wirklich so weit ist.

Genau besehen, ist für diese Fernsehabende der gute schlechte Film zu anspruchsvoll. Am besten eignet sich Dreck, Serien wie „Stingray“ beispielsweise, auch deutsche Polizeiserien bei RTL und Sat.1. Was guckst du?, fragt K., wenn sie aus ihrem Zimmer kommt, wo sie lege artis am Computer hockt. Dreck, sage ich glücklich und hebe den Füller vom Papier, reinen Dreck.

Das ist, ich gebe es zu, ein langer Weg von den englischen Abenden bis hierher. Aber vermutlich ist jeder TV-Konsument verblüfft, wenn er sich mal deutlicher erinnert, weniger was denn wie er die ganze Zeit ferngesehen hat.

MICHAEL RUTSCHKY, Jahrgang 1943, lebt und arbeitet in Berlin – voll verkabelt