: Protestieren? Nur über 50!
Flanieren statt demonstrieren: Hamburgs Polizei schränkt die Meinungsfreiheit immer mehr ein. Umzüge mit weniger als 50 Teilnehmenden werden auf den Bürgersteig verbannt
von KAI VON APPEN
Seit einem Jahr nehmen die Einschränkungen des Versammlungsrechts unter dem Schwarz-Schill-Senat massiv zu. Hamburgs Innenstadt ist mittlerweile auf Drängen der Handelskammer und des Einzelhandels für Großdemonstrationen durch die Polizei nahezu zur Tabu-Zone erklärt worden. Aber auch kleinere Umzüge mag die Staatsmacht im Interesse von Handel und Verkehr nur noch begrenzt dulden.
Dienstag, 10. Dezember, „Tag der Menschenrechte“. Eine kleine Gruppe von Leuten versammelt sich nahe dem Hauptbahnhof, um gegen die Menschenrechtsverletzungen im von China besetzten Tibet zu demonstrieren. Nach den gesetzlichen Normen haben sie alles richtig gemacht: Eine Versammlungsleiterin hat den Umzug ordnungsgemäß angemeldet, das Mitführen von Transparenten angekündigt, und auch der Lautsprecherwagen ist registriert.
Während sich die Demonstranten bei klirrender Kälte sammeln, guckt der Polizeiführer skeptisch in die Runde. „Sie sind unter 50 Personen, daher können sie nur auf dem Fußweg demonstrieren“, teilt er der Versammlungsleiterin mit. Diese, total eingeschüchtert, zählt und kommt auf 43 Teilnehmer. Der Weg über die „Kommunaltrasse“ Mönckebergstraße bleibt durch die Polizei-Order verwehrt.
Der Lautsprecherwagen wird weggeschickt
Der Lautsprecherwagen wird weggeschickt, die Transparente müssen wegen der Gefährdung der „Passanten“ auf dem Fussweg eingerollt werden. Auf Intervention, ob dies die Rechtsabteilung der Polizei tatsächlich so verfügt habe, gibt sich der Einsatzführer burschikos und selbstbewusst: „Das geht die Rechtsabteilung nichts an, das ist Verfassungsrecht!“ Das habe er gerade an der Polizei-Uni so gelernt.
Eine Rechtsposition, die die Sprecherin des Bundesverfassungsgerichts, Gudrun Schrafthuber, total überrascht: „Ein solches Urteil ist mir nicht bekannt, so dass ich es nicht kommentieren kann“, sagt sie der taz hamburg. „Aber vielleicht kann mir ja mal die Hamburger Polizei ein Aktenzeichen nennen.“ Unter Hamburger Versammlungsrechts-Juristinnen löst das polizeiliche Vorgehen Befremden aus. „Das ist klar eine Einschränkung der freien Meinungsäußerung“, sagt Cornelia Ganten-Lange. Denn auf dem Bürgersteig gelte natürlich ein Fahrverbot für Lautsprecherwagen. Ihre Kollegin Ursula Ehrhardt pflichtet ihr bei. „Der Straßenverkehr hat im Grundsatz vor dem Demonstrationsrecht zurückzustehen.“ Eine Verbot von Transparenten und Lautsprecherwagen gehe zu weit. „Das greift total in das Demonstrationsrecht ein“, sagt Ehrhardt, „es muss doch noch möglich sein, etwas hochzuhalten.“
„Die Auflage war in Ordnung, die Rechtsauffassung ist aber verkürzt dargestellt“, relativiert der Leiter der Rechtsabteilung der Polizei, Matthias Burba, das polizeiliche Vorgehen am 10. Dezember. „Es gibt keine feste Grenze, die lautet: alles, was unter 50 oder 60 Leuten ist, muss von der Straße“, sagt er. Es käme vielmehr auf den Einzelfall an. Burba räumt allerdings ein, dass die Polizei durchaus Einschränkungen vornehme, weil sie sich in einem „schwierigen Abwägungsprozess“ befinde: Versammlungsrecht einerseits, der freie Verkehr für die Stadt auf der anderen Seite. „Die Inhalte haben uns als Polizei – es sei denn, die Inhalte sind strafbar – nicht zu interessieren.“
Abwägung nach Verhältnismäßigkeit
Die Verhältnismäßigkeit allerdings schon. Beispiel: Wenn 30 Leute zur Rush-hour auf der Fahrbahn der Ost-West-Straße für eine ungehinderte Krötenwanderung am Falkensteiner Ufer demonstrieren wollen, sei die Verbannung auf den Bürgersteig vielleicht gerechtfertigt. Wenn hingegen 10 Leute für das gleiche Anliegen eine Straße in Blankenese beanspruchen, auf der nur alle 30 Minuten ein Fahrzeug durchkommt, „kann dies“, so Burba, „kein Problem sein“.
Eine Rolle spiele auch die „Erstmaligkeit“ nach einem Ereignis. Dabei denkt Burba an die Proteste nach dem Tod von Nicola S. in der Stresemannstraße. „Wenn in einer gewissen Zeit immer wieder eine Gruppe dort demonstriert, die nur 30 Personen umfasst, ist es eine Frage der Abwägung, ob die Demonstration als Auflage auf dem Bürgersteig stattfinden muss“, sagt Burba. Dabei befindet er sich im Einklang mit Michael Kniesel, einer Koryphäe unter den Kommentatoren des Versammlungsrechts. „Wenn eine kleine Gruppe von Menschen zehnmal ihr Anliegen am gleichen Ort zur gleichen Zeit vortragen konnte, kann davon ausgegangen werden, dass dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung Genüge getan wurde“, so Kniesel. „Das darf aber von der Polizei im Einzelfall nie extensiv eingeschränkt werden.“
Das sieht auch Burba im Hinblick auf die Geschichte der Stesemannstraßen-Proteste so. „Wenn die Teilnehmerzahl eine Größe von mehreren hundert erreicht hat, wie Anfang der 90er Jahre, gibt es keine Frage, dass die Demonstrationen den öffentlichen Verkehrsraum nutzen können.“
Übrigens: Nach Teilnehmer-Protesten und internen Diskussionen in der Polizeiführung durfte die Tibet-Demo – dann auf 50 Personen hochgerechnet – doch noch auf die Mönckebergstraße. Angemessen artikulieren ließ sich der Protest mangels Lautsprecherwagen allerdings nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen