: Zum Abschied gab‘s Korn
Weihnachten 2002 im Ausnahmezustand: Wie der Norwalk-Virus den Menschen überlistet und ganze Hausgemeinschaften lahm legt. In Bremen sind vier Einrichtungen betroffen
Stiftungsdorf Rablinghausen, in der Woche vor dem vierten Advent. An den Glaseingangstüren kleben Zettel, die geradezu freundschaftlich mahnen: „Diese Ebene nach Möglichkeit bitte nicht betreten.“ Es ist 12 Uhr mittags. Gähnende Leere auf den Gängen des Altenwohnheims. Auf dem Stuhl einer Sitzgruppe steht ein Brettspiel mit verteilten Figuren, in einer Ecke liegen Holzkegel verquer. Sieht aus, als sei eben noch damit gespielt worden. Neben unaufdringlichem Weihnachtsschmuck stehen Plastikflaschen: Sterillium Virugard, ein deftiges Desinfektionsmittel für die Hände.
Aus der verwaisten Wohnküche, die groß, hell und freundlich eingerichtet ist, an deren Wänden unzählige Fotos von alten Menschen und Zeichnungen hängen, schiebt Alltagsmanagerin Margit Kleibrink einen Wagen mit dampfenden Töpfen. Zwei vermummte Gestalten mit Mundschutz, Gummihandschuhen und Schutzkittel beginnen, das Essen auf die Zimmer zu verteilen. Später stellt sich heraus: Das sind Sigrid und Manuela, Hauswirtschafterinnen.
Margit Kleibrink schaut den beiden aus ihrer Küche traurig hinterher, schüttelt den Kopf und seufzt: „Seit elf Tagen herrscht hier der Ausnahmezustand.“ Das Norwalk-Virus hat hier alles lahm gelegt. Die Bewohner können ihre Zimmer nicht verlassen, Angehörige dürfen nur ganz eingeschränkt ihre Verwandten besuchen – und wenn, dann nur in voller Schutzmontur: Ansteckungsgefahr durch Schmierinfektion. Ein quarantäneähnlicher Zustand.
„Der meldepflichtige Norwalk-Virus verursacht akuten Ausbruch von Brech-Durchfall“, erklärt Dr. Werner Wunderle vom Bremer Gesundheitsamt. Innerhalb weniger Stunden nach einer Infektion zeigten sich in der Regel schon die Symptome, die allerdings nach zwei, drei Tagen wieder überwunden seien.Weshalb dann diese Vorsichtsmaßnahmen? „Weil der Patient den Erreger noch mindestens 48 Stunden in sich hat und auf andere übertragen kann.“ Da alles so rasant vor sich geht, bevor man überhaupt erkennt, um welches Virus es sich handelt, hat es schon viele erwischt.
Besonders Gemeinschaftseinrichtungen wie Krankenhäuser und Altenheime werden vom Virus heimgesucht. Zurzeit seien ihm ein Bremer Krankenhaus und vier Altenheime bekannt, in denen der Erreger noch grassiert, gibt Dr. Wunderle Auskunft.
Der Laie staunt: Kann man denn nichts dagegen tun? Kein Wundermittelchen, kein Impfstoff? Nein, das Norwalk-Virus ist ausgesprochen resistent gegenüber Desinfektionsmitteln und Umwelteinflüssen – und es lässt sich bisher noch nicht auf Kulturzellen züchten. „Es gibt keine kausale antivirale Therapie“, heißt es aus dem Robert-Koch-Institut. Man vermutet sogar, dass es immer aggressivere Mutationen des Virus gebe. Selbst mit gründlichen Hygienemaßnahmen könne die Krankheit nicht immer eingedämmt werden. Noch ein Nachteil: Hatte man das Virus schon mal, ist man nicht automatisch immun dagegen. Man kann sich also immer wieder anstecken.
Margit Kleibrink ist besorgt: „Nikolaus ist ausgefallen, Adventsfeiern sind ausgefallen. Wenn jetzt auch noch Weihnachten ...–“, sie wagt es gar nicht auszusprechen. Für einige der alten Bewohner könne es schließlich das letzte Fest sein. Die 54-Jährige zeigt nach außen Stärke, aber man merkt ihr schon an, dass sie das alles mitnimmt. Sie darf die Bewohner ja nicht einmal besuchen. Weil sie kocht, gilt für sie striktes Kontaktverbot. „Da sind die nun eingesperrt in ihre Zimmer, und hier ist alles ausgestorben.“ Sonst sei immer Gewusel in der Wohnküche. Die alten, zum Teil demenzerkrankten Menschen säßen immer hier, schälten Kartoffeln, spülten Geschirr, planten das Essen, quatschten, stritten, lachten, spielten miteinander. „Eben wie in einer Großfamilie.“
Das gehört zum – in Deutschland noch recht seltenen – Konzept im Stiftungsdorf Rablinghausen: In sechs so genannten Hausgemeinschaften leben, arbeiten und wohnen zehn bis elf alte Menschen. Medizinische Betreuung gibt es durch den ambulanten Paritätischen Pflegedienst, der Bremer Stiftungsservice stellt die Hauswirtschafterinnen, die den gesamten Alltag gemeinsam mit den Bewohnern managen. „Die sind Einsamkeit und Langeweile gar nicht gewohnt“, sagt Margit Kleibrink. Entsprechend gereizt sei inzwischen die Stimmung in den Zimmern. „Auf so was waren wir hier nicht vorbereitet.“
Natürlich habe man versucht, ganz gelassen mit der Situation umzugehen. Jetzt schmunzelt die Alltagsmanagerin etwas: „Als klar war, dass alle in ihre Zimmer müssen und die Küche erstmal tabu bleibt, saßen wir alle hier“, sie weist auf die leeren Tische und Stühle, „und zum Abschied gab’s nochmal für jeden ’nen Korn.“ Nur ein temporärer Trost.
Hausleiterin Ulrike Scheer gibt sich trotz der widrigen Umstände zuversichtlich, was Weihnachten betrifft: „Das fällt nicht aus. Das können wir doch nicht machen!“ Irgendwie klingt das hilflos und beschreibt die Gesamtsituation sehr deutlich: Der Mensch denkt, das Virus lenkt.
Daniela Barth
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