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Menschsein tut weh

Was leistet die Bühne, was andere nicht besser können? Ist es genug, die Verletzlichkeit aller zu zeigen? Das Theater sucht die Weltgeschichte und ringt mit dem Widerspruch, nicht zugleich nah beim Menschen und auf der Höhe der Fakten sein zu können

von SABINE LEUCHT

Wenn die Gewalt an die Arbeit geht, spritzt das Blut. Wie weit und in welcher Farbe – das hat die Bühne meist besser im Griff als das Leben. Und dass der Schrecken dort ein klares Ende hat, ist wirklich schön. Die Ästhetik und die Grausamkeit, ohne diese ungleichen Bettgenossen hätte es das Theater nie gegeben. Seit seinen Anfängen in der griechischen Polis hat sich im Wesentlichen nur geändert, wie a mit b zusammengeht. Denn nur ganz von fern erinnern die Selbstverletzungsperformances einer Marina Abramovicz noch an die zerfetzten Leiber der Christen in der römischen Arena. Mit der Zeit wechseln nicht nur Täter und Motive, sondern auch die Mittel. Die Techniken des Körperverschleißes schauen heute unbenommen zarter aus, ja beinahe gepflegt: Elektronische Prothesen verlängern die Glieder von Performern, schnuckelige Selbstverletzungen fallen im Alltag kaum ins Auge, kommen sie doch stets im Umhang von Schönheits- und Körperkult daher.

Nur die großen Stadt- und Staatstheater lieben es noch immer grob. Die einen denken bei Gewalt an Spektakel, die anderen lassen in Schönheit sterben, praktisch fleckenfrei. Das sind dann die Modernen – ganz auf der Höhe der alltagsüblichen Retuschierwut, wenn auch nicht auf der Höhe der Weltgeschichte. Das Jahrhundert eben im Rücken – das die meisten Kriege und Morde gesehen hat, die Nachwehen des 11. September als dauerdräuende Wolke über sich und Amok laufende Kids rundherum –, sieht der Rückzug auf das nur Ästhetische aber arg nach Eskapismus aus.

Deshalb vielleicht eröffneten diese Saison gleich zwei große Münchner Theater mit Shakespeares selten servierter Schlachtplatte „Titus Andronicus“, während man in Stuttgart über Senecas „Thyestes“ tagte. Die Bühne als Showroom für eine immense Gewaltspirale, deren Durchschreitung sich mancher fast lustvoll selbst auferlegt: „Ich will eine Qual, die selbst die Nacht erschrecken lässt“, schreit Tantalus – und bekommt sie auch. Kommt der Theaterbesucher aber deshalb besser mit seinen Alltagstragödien zwischen Jobverlust und Scheidungskrieg zurecht? Oder, anders gefragt: Was interessiert sich die große dunkle Nacht für meinen little daily horror?

So erhebt sich mit schöner Regelmäßigkeit ein Raunen in den Zuschauerräumen: „So was von brutal, das muss ich mir nicht antun!“ Man hört es dort, wo Gewalt schockgefrostet auf die Bühne kommt und ebenso da, wo das mordende Tier Mensch quietscht vor Wonne.

Denn für den Durchschnittskonsumenten ist die Ästhetik unsichtbar. Das wäre ja okay, wenn bloß die Wirkung stimmte – und von Fall zu Fall verschieden wäre. Doch wann brach zuletzt in einem Musentempel das therapeutische Gewitter der Katharsis los? Wen hat die „helle“ Gewalt, wie sie in den optimistischen Sechzigerjahren Living Theatre & Co auf die Bühne bringen wollten, überhaupt je geläutert entlassen? Für die inwendige Genesung gibt es längst die Psychocouch, Gewaltkick und Angstlust kommen billiger per Internet und TV ins Haus. Was also leistet die Bühne (noch), was nicht andere besser können? Die große Frage von Büchners Danton jedenfalls: „Was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?“ löst das Theater auch mit Hilfe jenes Mannes nicht, der uns angeblich erfunden hat. In Shakespeares „Titus Andronicus“ folgt die Gewaltspirale der Logik heutiger amerikanischer und islamischer Fundamentalisten, sprich: der Logik der Vergeltung. Christian Stückl macht es sich in seiner „Titus“-Inszenierung am Münchner Volkstheater leicht – und uns schwer: Er hat die Schänder Lavinias – hibbelige Menschmaschinen, die später als Pastete an die eigene Mutter verfüttert werden – in bunt-sportliche Gegenwartskluft gesteckt, während der Rest der Narrenschar in geliehen aussehenden Togen umgeht: Als Laienspiel und Deppengeschäft rückt die Gewalt zugleich von uns ab und wird unentrinnbar. Denn Deppen gibt es überall.

Das mag zwar wahr sein, lässt aber die grundlegende Tragik unseres kreatürlichen Selbst unangetastet. Am Ende sind fast alle tot, und noch immer ist nicht spürbar geworden, was eigentlich passiert, wenn das Bündel aus Geschichten, Sehnsüchten und Pflichten, das jeden von uns ausmacht, mit dem Körper wieder zu Blut und Schleim und nichts zerfällt.

Die Bühne als im weitesten Sinne spiritueller Ort, der den Menschen mit sich selbst konfrontiert, muss heute mehr zeigen als jenes großformatige Gemetzel, das dem elisabethanischen Publikum so gefiel. Oder weniger. Shakespeare erscheint heute jedenfalls gestriger als das so genannte Küchendrama, in dem die Gewalt nichts Staatstragendes hat und sich auch sonst auf nichts Höheres bezieht. Es ist gerade das Banale, aus dem das Monströse am glaubwürdigsten entspringt. Das wussten die „schmutzigen“ Engländer vermutlich zuerst. Heute ist der amerikanische Mormone Neil LaBute mit seinen erschütternden Mördermonologen „Bash“ erfolgreich, worin das Töten längst vorbei ist und kaum noch Flecken auf den Seelen hinterlässt. Oder der junge Kristo Sagor, dessen „Unbeleckt“ 2001 entgegen allen Spekulationen den Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts gewann: Ein schwuler Türke bietet sich über Internet einem Lover zum Verschleiß an. Doch weil hier Gewalt- und Leidenslust die Liebeslust an die Hand nehmen, geht das recht exotische Drama allgemein nah. Es ist gleichsam die Verlängerung des eigenen Körpers, die hier Hiebe empfängt. Der Peiniger spürt sie selbst.

Taugt die Bühne wenigstens noch als Memento mori? In einer Welt, in der unaufhörlich gestorben wird, meist aber anderswo, zeigt sie die Verletzlichkeit aller Körper: Woyzeck hat einen – und der König, der Mohr stirbt genauso wie der Jude, der Edelmann wie das Tier. Dass auch der ideale fit-junge Sportlerkörper vergänglich ist, das hat Elfriede Jelinek in ihrem Stück „In den Alpen“ überdeutlich gemacht.

Blut ist ein ganz allgemeiner Saft. Aber – und das hat die Bühne zu bedenken – es berührt uns nicht, wenn er ganz allgemein vergossen wird. Es muss schon in „rauen“ Mengen fließen. Nicht wie in den Nachrichten, wo ein Seufzer reicht, um das Unglück wieder wegzuschieben, sondern im Sinne von Roland Barthes’ „Rauheit der Stimme“, wo sich „rau“ auf die Reibungsfläche Körper bezieht, die sich beim Singen wie beim Sterben aktiv mit ins Spiel bringt. Wo könnte diese Rauheit deutlicher in Erscheinung treten als in Theater oder Tanz, wo jede Bewegung und jeder Ausdruck durch Widerstände der Materie hindurch muss, Reibungsverluste inklusive – und teilweise gewollt.

In Elmar Goerdens Inszenierung des „Titus Andronicus“ im Münchner Residenztheater ist die Bühne eine Bretterbude, über deren Stufen die Akteure beim Schlussapplaus ins Stolpern geraten. Zuvor hatte Goerden die Mördergesellschaft sehr klug als eine Gruppe von Individuen gezeigt, die – wenn überhaupt – nur sich selbst noch zum Helden taugen.

Wir leben in unrevolutionären Zeiten: Selbst politische Slogans fallen in den Schreiorgien eines René Pollesch letztlich nur wieder auf die Schreienden zurück – allerdings eher auf ihre immer heiserer werdenden Stimmen als auf sie selbst als Person. Das ist – obwohl so oft nur als postindustrielle Beschleunigung des Sprechtheaters gelesen – „körperlicher“ als so manches „Körpertheater“, wo der Körper an sich selbst demonstriert, was ihm blüht. Im „Fall der Götter“ von Zuidelijk Toneel Hollandia spielt der unvergleichliche Jeroen Willems gleich drei Generationen einer Industriellendynastie – und begeht Vatermord an sich selbst: Noch liegt er schlafend auf dem Lager, schon beugt er sich zitternd darüber, mit dem Messer in der Hand. Selten wurde dermaßen bildhaft der grausame Schacher evident, der unser aller Leben prägt: dass jedes „Leben eingestandenermaßen stets jemandes Tod“ ist, wie Artaud gesagt hat. Im Zweifelsfall und am Ende sogar gewiss: des eigenen. So ist das um Wahrheit ringende Theater das Gegenteil eines Tanzes, in dem sich im Idealfall „die eigene Freiheit und die geschonte Freiheit des anderen“ in Harmonie miteinander verbinden, wie es Friedrich Schiller beschrieb.

Sofort ergibt sich daraus der Generalverdacht, dass eine Gesellschaft der Individuen kein Theater hervorbringen könne, das zugleich harmonisch ist und wahr. Ist Schönheit auf der Bühne immer eine Lüge? Wer jemals Simon McBurneys Theatre de Complicite gesehen hat, weiß es besser. In ihrem „Mnemonic“, worin die Suche zweier Liebender nach ihren Wurzeln mit Spekulationen um den iceman Ötzi verschnitten wird, stellt sich zuletzt die Frage, was den nackten Körper eines anderen Menschen so vertraut macht. Die Antwort: Es sind die Empfindungen, die man Glied für Glied am eigenen Leib nachbuchstabieren kann. „All of them“, dies wird wie ein Mantra widerholt, „all of them creating a home.“ Wie verletzlich eine Kreatur ist, muss nicht unbedingt an ihrem Körper demonstriert werden. Der bleibt hier als höchst gewandter Hauptausdrucksträger völlig unversehrt. Und doch erkennt man, weiß man, spürt man: Menschsein tut weh.

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