: Die Sehnsucht nach der Brücke
von KENO VERSECK
„Das wachsende Interesse am Donauraum lässt sich auf eine Reihe von Gründen zurückführen, von denen der wichtigste ist, dass er eine einzigartige geografische Mittlerposition zwischen Europas ökonomischem Kern und der Schwarzmeerregion besitzt sowie auch seine geopolitische Bedeutung und die positive metaphorische Kraft des ewig fließenden Flusses wiedergewonnen hat. Die Zahl der Initiativen und Projekte, Konferenzen, Seminare und Programme, die sich auf den Donauraum beziehen, steigt von Jahr zu Jahr.“ Europäische Kommission, Generaldirektion für Regionalpolitik: Donauraum-Studie, Juli 2001, Teil I, Kap. 1, Abs. 1.1 (1)
Donau, Flusskilometer 793,0. Am längsten dauert es, wenn nur ein paar Leute und wenige Fahrzeuge über den Fluss wollen. Dann warten die Kapitäne, bis ihre Boote und Fähren voll sind. Dabei vergehen manchmal Stunden. So ein Tag ist heute, und an so einem Tag denkt Ioana Olteanu jedesmal, dass es gut wäre, wenn endlich die Brücke gebaut werden würde, damit sie nicht mehr warten, warten, warten muss, im Sommer bei Hitze, im Winter bei Regen, bei Schnee oder bei Wind, hier in Calafat an der Donau, in diesem trüben, stillen Städtchen im Südwestzipfel Rumäniens, wo es schwierig ist, morgens um neun einen Kaffee zu trinken und wo die Grenzer und Kapitäne von der Zeit vor zwei Jahren schwärmen, als Autos und Lastkraftwagen aus ganz Europa noch kilometerlang hinter der Stadt auf der E 79 anstanden, weil der Weg durch Jugoslawien gesperrt war.
Ioana Olteanu, 38, früher Arbeiterin in einer Lokomotivenfabrik, heute reisende Kleinhändlerin, ist morgens um neun aus Craiova gekommen, 90 Kilometer entfernt, im Kleinbus, mit einer Bekannten und noch einem halben Dutzend anderer Leute. Jetzt ist es 11 Uhr. Noch immer sind nicht genügend Leute beisammen für die Überfahrt im Personenboot, das Ioana Olteanu heute nehmen wird, und so sitzt sie im Jogginganzug, die Dauerwelle zerzaust, auf einem Poller, kaut Brot, Speck und Zwiebeln, trinkt grellgrüne Limonade und unterhält sich mit ihrer Bekannten über die Preise für Waschmittel, geröstete Sonnenblumen- und Kürbiskerne, Kekse, Zigaretten und Kaffee, die sie drüben in Bulgarien, in der Stadt Vidin, einkaufen und dann in ihrem kleinen Kiosk in Craiova weiterverkaufen wird.
Kurz nach zwölf, als zwei Dutzend Leute, alle mit schweren Reisetaschen und Säcken behängt, die Kabine des Bootes füllen, geht es los. Ein paar Schritte weiter warten vier bulgarische Lastkraftwagenfahrer und einige polnische Touristen in ihren Autos darauf, dass weitere Fahrzeuge am Grenzübergang eintreffen, damit die Fähre ablegen kann.
Es ist diesig und windig auf der Donau. Stromabwärts im Dunst die Schemen der Neubaublocks am Stadtrand von Vidin, stromaufwärts die Donauinsel, die bald die Mittelpfeiler der neuen Donaubrücke tragen soll.
Nicht nur Ioana Olteanu, sondern alle Handelsreisenden auf dem Boot finden, dass es an der Zeit sei für eine Brücke. Sie könnten in einem Kleinbus über den Fluss fahren, würden weniger warten, müssten nicht mehr ihre schweren Taschen vom Markt im bulgarischen Vidin zum Boot und vom Boot zum Bus im rumänischen Calafat schleppen. Es gäbe nur noch einen gemeinsamen Zoll, das haben sie gehört, und überhaupt, mit dem Verkehr käme mehr Geld, kämen ausländische Investoren, neue Arbeitsplätze.
Die Brücke. Es gibt nur eine einzige auf der fast 600 Kilometer langen Grenze zwischen Rumänien und Bulgarien, von der die Donau auf einer Länge von 450 Kilometern Grenzfluss ist: Die „Brücke der Freundschaft“ südlich der rumänischen Hauptstadt Bukarest. Ansonsten: mehrere Fährübergänge. Nachdem die Balkantransitrouten wegen der Kriege im ehemaligen Jugoslawien von 1991 bis zum Jahr 2000 fast durchgehend gesperrt oder unpassierbar waren, wurden die Donaugrenzübergänge zwischen Rumänien und Bulgarien unter Reisenden und Lastwagenfahrern wegen ihrer extrem langen Wartezeiten zu den berüchtigten Nadelöhren der Region. Währenddessen stritten die beiden Länder um den Bau einer zweiten Brücke. Auf Druck der Europäischen Union einigten sie sich im März 2000 auf den Bau der Brücke bei Calafat und Vidin am Flusskilometer 796,0.
Seit dem Abkommen stagniert das Projekt der 1.200 Meter langen Brücke, die vier Fahrspuren und zwei Eisenbahngleise haben soll. Erst die Hälfte der 160 Millionen Euro, die die Brücke kosten wird, steht bereit, darunter 50 Millionen Euro, die der Balkan-Stabilitätspakt über die Europäische Investitionsbank vermittelt hat. Ein weiterer Teil des Geldes soll aus einem EU-Fonds für die osteuropäischen EU-Kandidaten kommen. Voraussichtlich erst in einem Jahr kann mit dem Bau begonnen werden.
Calafat wartet auf die Brücke. 22.000 Einwohner, 17 Prozent Arbeitslose, eine Textil-, eine Konserven-, eine Zuckerfabrik, viel Subsistenzlandwirtschaft, das Gerippe eines Hotels, der Bau ist unterbrochen, ein stillgelegter Eisenbahnterminal an der Donau, rostende Schiffe. Die Beziehungen nach drüben, ins bulgarische Vidin, sind seit Jahrhunderten sehr gut, sehr freundschaftlich, sagt der Bürgermeister, sagen die Grenzpolizisten, sagen die Zöllner. Gemeinsame Fußballspiele, Austausch von Saatgut für die Bauern, leider keine wirtschaftliche Zusammenarbeit, außer den paar Leuten mit ihren Taschen.
Vidin wartet nicht. In Vidin hängen in offiziellen Gebäuden Europafahnen und Plakate mit der Aufschrift: „Vidin – Brücke nach Europa“. 87.000 Einwohner, 25 Prozent Arbeitslose, Chemie-, Textil-, Maschinenbauindustrie, eine Freihandelszone, ein kleiner Hafen, Straßen voller Märkte, Ausflugsdampfer und Restaurantschiffe an der Donau, eine Uferpromenade im Bau. Werbeprospekte preisen die Stadt in unwiderstehlich charmantem osteuropäischem Englisch an. Gewiss, kaum anderswo würden ausländische Touristen und Investoren so freudig empfangen wie hier. Die hohe Arbeitslosigkeit in der Stadt und drüben, auf der anderen Seite der Donau, versetzt den Bürgermeister fast in Begeisterung, so sehr schwärmt er von der Möglichkeit, diese Probleme in Zusammenarbeit zu lösen.
Und wenn es auch noch dauert mit der Brücke und einstweilen nur Leute wie Ioana Olteanu kommen, dann sollen sie kommen, sie sind willkommen. Die Zöllner am bulgarischen Donauufer jedenfalls scheinen Anweisung zu haben, alle unbürokratisch durchzulassen, egal, wie viel sie eingekauft haben. In einer langen Schlange stehen sie da, die Leute aus Rumänien, jeder um die 100 Kilo dabei, die Zöllner werfen nur kurze Blicke auf die Waren.
Der Kapitän des Personenbootes kennt die Prozedur des Aufladens zur Genüge, und dennoch schreit, gestikuliert und dirigiert er, als sich die Leute mit ihren Taschen und Säcken um sein Boot drängen. Als alles verstaut und auch auf dem Kajütdach keine Ecke mehr frei ist, schlägt er die Hände überm Kopf zusammen.
Je näher das Boot der rumänischen Seite kommt, desto mehr verfinstert sich Ioana Olteanus Miene. Auf der rumänischen Seite kontrollieren die Zöllner streng und langsam, sagt sie schlecht gelaunt. Offiziell darf sie die Einkaufsfahrt von Calafat nach Vidin und retour einmal im Monat unternehmen und Waren im Wert von 100 Euro zollfrei mitbringen. Zwar war sie in diesem Monat noch nicht in Bulgarien, aber sie hat für mehr als 100 Euro eingekauft. Mit ihrer Bekannten spricht sie sich ab, wer was mit durch den Zoll nimmt.
Fünf Uhr. Das Boot hat noch nicht ganz am Ufer in Calafat angelegt, da springen die ersten Leute auf den Anleger, fliegen die ersten Säcke herüber. Wildes Gedrängel. Ioana Olteanu und ihre Bekannte ergattern einen Platz im vorderen Teil der Schlange. Nachdem sie eine halbe Stunde gewartet und dann dem Zöllner den Inhalt ihrer Taschen schuldbewusst vorgezeigt haben, bekommen sie den Stempel für diesen Monat in den Reisepass. Sie schleppen ihre Taschen den Steg hoch zum Bus. Ein paar Schritte weiter fahren gerade die bulgarischen Lastkraftwagen und die polnischen Touristen auf die große Fähre.
„Die Donau ist ein großartiger europäischer Fluss, der durch die heutigen und zukünftigen Mitgliedsstaaten fließt. Die Europäische Union existiert, damit sie die Wunden der Vergangenheit heilt und eine bessere Zukunft für alle Europäer schafft.“ EU-Kommissionspräsident Romano Prodi, 29. 11. 2001, anlässlich der Teilräumung des Donaubetts bei Novi Sad von Brückentrümmern
Donau, Flusskilometer 1.257,6. Eine Flasche Schnaps stand immer auf dem Kellertisch, die ganzen 77 Tage lang. Und was Svetozar Srdić sonst noch für sich und seine Familie brauchte: Kerzen, Radio, ein Stahlhelm gegen Granatsplitter, wenn mal jemand hochmusste. Und Waffen. „Falls die Amerikaner einmarschiert wären.“ Er lacht. Er meint es ernst. „Eine feige Nation. Sie haben nur Bomben vom Himmel geworfen.“ Auf eine Raffinerie, auf das Fernsehgebäude, zwischen einige Wohnblocks, aus Versehen, und auf alle drei Brücken von Novi Sad: die Lebensadern der nordserbischen Stadt, das Nadelöhr über die Donau, den Fluss, der das Land teilt.
Svetozar Srdiać zeigt Bilder vom Kellerleben, das er fotografiert hat wie einen Abenteuerurlaub. Die Tochter Jelena, damals fünf, schläft kinderselig auf einem Feldbett, der Sohn Nikola, zehn, spielt vor der Kellerluke stolz mit einer Pistole. Srdić selbst, lachend, wie er mit einem Nachbarn anstößt, der ein Gewehr in der Hand hält. Seine Frau Vera, die mit gespielter Eiseskälte in die Kamera blickt und mit einer Magnum ins Objektiv zielt. Underground in Serbien, im April 1999, während des Nato-Krieges gegen Jugoslawien. „Das sieht lustig aus, nicht wahr? Aber Angst lässt sich nicht fotografieren“, sagt Srdić. „Wir Serben sind stolze Kämpfer. Mann gegen Mann, das hätte ich akzeptieren können. Aber Bomben gegen Zivilisten?!“ Er ist noch immer angewidert, so als wäre der Krieg gestern gewesen und nicht vor dreieinhalb Jahren.
Svetozar Srdić, 44, schlank-athletisch, bärtig, eine Spur von Sarkasmus im Blick, ist Kardiologe am Herz-, Lungen- und Krebskrankenhaus in Sremska Kamenica. Der kleine Ort liegt gegenüber von Novi Sad, auf der anderen Seite der Donau, das Krankenhaus auf einem Hügel. Aus seinem Büro kann Srdić über die Donau auf Novi Sad blicken und die Trümmer der Freiheitsbrücke im Fluss sehen.
Über die Brücke ist er früher jeden Tag zur Arbeit gefahren. Sieben Minuten waren es mit dem Auto von seiner Wohnung in Novi Sad zum Krankenhaus. Am 3. April 1999, abends um fünf vor acht, rasierte ein Präzisionsgeschoss auf der Freiheitsbrücke einen der beiden 60 Meter hohen Brückenpfeiler mit den 48 Trägerseilen weg. Die 1.200 Meter lange Brücke stürzte genau in der Mitte ein. Zwei Tage vorher hatten Nato-Kampfflugzeuge die Varadin-Brücke in den Fluss gebombt, drei Wochen später versenkten sie die Zezelj-Brücke in der Donau. Srdić brauchte von da an zwei Stunden zur Arbeit.
Novi Sad besitzt kein vergleichbares Spezialkrankenhaus für Herz- Lungen- und Krebskranke. Nicht nur der Weg vom Novi Sader Ufer, von der Großstadt mit ihren 233.000 Einwohnern zum Krankenhaus in Sremska Kamenica, war nach der Zerstörung der Brücken abgeschnitten. Auch Strom, Wasser und Telefon hatten Ärzte und Patienten nicht mehr, weil alle Leitungen und Rohre unter der Freiheitsbrücke entlang liefen. Kranke wurden in Booten oder improvisierten Fähren über die Donau transportiert, Wasser herangekarrt. „Zum Glück ist damals niemand gestorben, bloß weil der Anfahrtsweg zu lang war“, sagt Svetozar Srdić. „Wir haben die Überlebensrate halten können, mit unglaublicher Mühe.“
„Novi Sad – die Stadt, in der die Donau über den Brücken fließt“. Postkarten mit solchen sarkastischen Aufschriften zu den Bildern der zerstörten Brücken gibt es an manchen Kiosken in Novi Sad noch immer zu kaufen. Das Motto stimmt nicht mehr ganz. Zwar liegen die meisten Brückentrümmer noch immer am Grund der Donau, aber über den Fluss spannen sich wieder drei Brücken: zwei vorläufige seit Herbst 1999, eine ständige seit September 2000.
Die neuen Brücken erinnern die Leute in Novi Sad täglich an die alten. Im Schritttempo wälzt sich der Transitverkehr über die Lastwagen- und Eisenbahnbrücke, die irgendwann wieder abgebaut wird, immer nur in jeweils eine Richtung, und wenn ein Zug sie passiert, müssen die Lastwagenfahrer anhalten und in einem hunderte Meter langem Stau warten. Auch über die Pontonbrücke, zugelassen für Autos und Busse, geht es nur im Schneckentempo. Dienstags, donnerstags und sonnabends wird die Brücke für Schiffe geöffnet, von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Dann fließt auch das Treibgut weiter, das sich an den Pontons auf der Wasseroberfläche anstaut – Holz, Hausmüll und Kunstoffflaschen.
Auch auf der Varadin-Brücke, der ersten neuen ständigen Brücke Novi Sads nach dem Krieg, drängen sich meistens Fahrzeuge. Es ist eine schlichte, kleine Betonbrücke mit zwei Spuren für den Autoverkehr. Als gelte es, sie besonders zu schützen, patrouillieren an ihren Enden jeweils mehrere bewaffnete Soldaten.
Ab nächstem Frühjahr soll die Freiheitsbrücke neu gebaut werden, im Herbst 2004 soll sie fertig sein. Die Europäische Union wird laut dem Bauvertrag den größten Teil der Kosten übernehmen, 34 von 40 Millionen Euro. Noch aber sind Bauarbeitertrupps mit riesigen Kränen, Schleppern und anderem schwerem Gerät dabei, die Trümmer der sechsspurigen Brücke abzutransportieren. Auch die Räumung der Donau finanziert die EU mit 22 Millionen Euro.
Die Leute in Novi Sad sind nicht gut zu sprechen auf die EU, sie sind noch immer enttäuscht vom Westen. Novi Sad, die Hauptstadt der autonomen Region Vojvodina, war immer eine Stadt der Opposition gegen das Regime in Belgrad, sagen sie. Was hatten wir mit Milošević und dem Kosovo zu tun?! Es gibt 20 Minderheiten und neben dem Serbischen vier andere Amtssprachen. Alle sind immer gut klargekommen miteinander. Warum mussten unsere Brücken bombardiert werden?
Novi Sad sieht aus, als hätten sich die Menschen schnell noch ein bisschen wohnlich eingerichtet in einem Ort, an dessen Zukunft sie nicht glauben. Überall an den Fassaden strahlt Leuchtreklame, die vielen stilvoll eingerichteten kleinen Cafés und Restaurants sind voller Gäste. Aber kaum ein Haus, kaum ein Gebäude ist frisch gestrichen. Auf den vielen kleinen Märkten und an vielen Straßenecken verkaufen Leute ihren Hausrat, so als finanzierten sie ihr Überleben bis zur erstbesten Fluchtmöglichkeit.
Im Büro von Svetozar Srdić hängt an der Wand eine triviale Apokalypse, Öl auf Leinen: Die schwarz-braunen Schemen einer in Schutt und Asche gelegten Stadt, darüber schwebt am violetten Himmel eine rote Coladose.
„In letzter Zeit ist alles leichter geworden, auch wegen der neuen Brücken“, sagt Srdić. „Und seit alles leichter ist, spüren wir unsere Müdigkeit. Zwölf Jahre hatten wir nur Konflikte und Kriege. Niemand hat gewonnen. Alle haben verloren. Wir, die normalen Leute, wissen nicht, warum das alles war. Und was jetzt noch kommt.“
Svetozar Srdić wartet auf weitere Fragen. Als keine mehr kommt, sagt er. „Jetzt schenkt uns der Westen eine Brücke. Aha. Es gab so viele Verhandlungen und Konferenzen für dieses Land. So viel Politik, so viel weißhaarige Köpfe, so viel Intelligenz. Und das ist dabei herausgekommen!“ Er schüttelt den Kopf und sieht traurig und einsam aus. „Alle, die an diesem Ergebnis mitgewirkt haben, sollen weggehen und nie wieder kommen.“
„Die Grenzregionen wurden als außerordentlich wichtig für die Entwicklung des gesamten Donauraumes identifiziert. Ihre potenzielle Funktion beim Überbrücken von Wohlstandsgefällen und soziokulturellen Hindernissen, die durch lang anhaltende Isolation (voneinander) und durch periphere Lage hinsichtlich nationaler Zentren entstanden, wird nur dann Wirklichkeit werden, wenn existierende Grenzen aktiv beseitigt werden.“ Donau-Raum-Studie, Teil V, Kap.20, Abs. 20.6 (29)
Donau, Flusskilometer 1.718,5. Valéria Dánielova weiß noch genau, wie die alten Leute immer wieder zum Stadtrat kamen und aufgeregt fragten: Werden wir die neue Brücke noch erleben? Wie am Tag der Eröffnung tausende Menschen seit den frühen Morgenstunden an den Flussufern warteten. Viele Tränen in den Augen hatten, als das letzte Element in der Mitte montiert wurde. Wie sie selbst an diesem Tag das erste Mal über die Brücke ging. Sie sucht Worte: „Ich kann kann das gar nicht ausdrücken … es war … ich habe jeden Augenblick ganz tief erlebt. Es war unbeschreiblich schön.“
Sturovo, ein verschlafener slowakischer Grenzort an der Donau. Ein halbes Jahrhundert lebten die Anwohner mit dem Blick nach drüben. Dem Blick auf die ungarische Stadt Esztergom, auf die weithin sichtbare Kathedrale, auf das nahe, unerreichbare andere Ufer. Und dem Blick auf die Brückentrümmer, die zu beiden Seiten in den Fluss ragten.
Die 1895 gebaute Marie-Valerie-Brücke hatte die beiden Orte verbunden wie einen einzigen, bis zum Dezember 1944, bis die Wehrmacht sie sprengte. Sturovo, 13.000 Einwohner, und Esztergom, knapp dreimal so viel, lebten voneinander, miteinander, durch die Brücke. Bis ihre Sprengung die beiden Städtchen zu typischen Provinzgrenzorten machte. Die Fähre, die tagsüber ein paar Mal über den Fluss verkehrte, konnte daran nichts ändern.
Valéria Dánielova, 44, eine blonde, zierliche, schüchterne Frau, ist lange nach der Zerstörung der Brücke geboren. Zusammen mit ihrem Mann Tibor wohnt sie in einem einfachen Wohnblock gleich an der Donau. Aus dem Fenster kann sie über den Fluss blicken, auf die mächtige Kathedrale von Esztergom. Sie ist aufgewachsen mit den knappen, periodischen Verlautbarungen, dass die Brücke doch nicht neu gebaut werde. Sie kennt die Geschichten der Alten, die Angst hatten zu sterben, ohne noch einmal eine neue Brücke zu erleben.
„Wir haben uns immer eine Brücke gewünscht“, sagt sie leise und so, als brächte sie ein sehr persönliches, seit langem insgeheim gehütetes Anliegen vor. Als sie zum ersten Mal auf der neu errichteten Brücke stand, im letzten Jahr, am 11. Oktober, hatte auch sie Tränen in den Augen. Weil es einfach nicht normal war, keine Brücke zu haben.
Kaum war sie ein paar Mal über die Brücke gegangen, da kam ihr eine Idee: Sie würde auf der anderen Seite des Flusses einen Arbeitsplatz suchen.
Bis 1992 war sie Krankenschwester in Sturovo, dann wurde ihr, nach 15 Jahren, wegen Sparmaßnahmen im Krankenhaus gekündigt. Seit 1992 bekam sie nur befristete Stellen, mal als „gemeinnützige Arbeitskraft“, wie sie schamhaft sagt, mal als Sozialarbeiterin in einem Behindertenwohnheim, mal als Aushilfssekretärin im Stadtrat von Sturovo.
Im Januar fing sie an, drüben in Esztergom, eine Arbeit zu suchen. Im Frühjahr erhielt sie eine Zusage. Seit dem 15. Juni arbeitet sie dort, als Krankenschwester in der Psychiatrieabteilung des städtischen Krankenhauses. „Ich bin sehr, sehr froh“, sagt sie, als wäre der Bescheid erst gestern gekommen. „Diese Brücke ist wirklich eine sehr positive Sache. Früher durfte ja von einer Brücke überhaupt nicht die Rede sein.“
Vor 1989, als tschechoslowakisch-ungarische Kommissionen regelmäßig tagten, nur um den Brückenbau immer wieder zu verschieben, gab es keine Begründungen. Aber unter sozialistischen Bruderländern, die den Internationalismus auf den Fahnen trugen, waren zu einfacher Austausch, zu viele Kontakte nicht gern gesehen, schon gar nicht, wenn es, angrenzend, Minderheiten gab wie die ungarische Minderheit in der Südslowakei. So ging es nach der Unabhängigkeit der Slowakei 1993 weiter: Slowakisch-ungarische Kommissionen verschoben den Brückenneubau immer von Neuem, zuletzt formal wegen Streitigkeiten um ihre Höhe, in Wirklichkeit eher, weil der slowakische Exregierungschef Vladimir Meciar nicht mehr Verbindungen als nötig nach Ungarn wünschte.
Nach seiner Abwahl konnten sich die Slowakei und Ungarn dann doch schnell einigen: Im Herbst 1999 schlossen sie den Vertrag über den Neubau der 400 Meter langen, zweispurigen Fußgänger- und Autobrücke, ein Jahr darauf wurde mit dem Bau begonnen. Von den 37 Millionen Euro Baukosten bezahlte die EU aus ihrem Phare-Fonds 10 Millionen, den Rest teilten sich Ungarn und die Slowakei.
Im Oktober letzten Jahres weihten die Bürgermeister von Sturovo und Esztergom die Brücke unter dem Jubel tausender Menschen ein. Reisebüros hatten Sonderfahrten in die beiden Städte organisiert, viele Menschen hatten Urlaub genommen. Als ob die beiden Bürgermeister nun schnell nachholen wollten, was 57 Jahre nicht möglich war, organisieren sie fast ständig gemeinsame Treffen, Theater-, Musik- und Sportveranstaltungen. Eines hätten sie nicht erwartet: den Wirtschaftsaufschwung, den die Brücke beiden Städten gebracht hat, vor allem dem slowakischen Sturovo. Mehrere hundert Menschen aus dem Ort, in dem es 28 Prozent Arbeitslose gibt, arbeiten in und um Esztergom – eine der wenigen Regionen in Ungarn, in denen seit einigen Jahren Arbeitskräftemangel herrscht, weil die Stadt Unternehmen günstige Ansiedlungsbedingungen wie Steuervorteile anbot und Investoren kamen. In Sturovo haben sich seit der Brückeneröffnung große Supermarktketten und Baumärkte niedergelassen. Viele der 35.000 Esztergomer kommen regelmäßig zum Tanken oder Einkaufen über die Brücke.
Selten stehen auf der Marie-Valerie-Brücke keine Fussgänger und Autos. Die Grenzer kennen viele Passanten. Auch Valária Dánielova. Ihren Ausweis muss sie zwar immer noch vorzeigen, aber die Beamten prüfen ihn nur mit einem kurzen Nicken.
An jeweils zwei von drei Tagen geht Valéria Dánielova zum Zwölf-Stunden-Schichtdienst ins Krankenhaus nach Esztergom. Sie verdient knapp 300 Euro, mehr als doppelt so viel, wie sie für dieselbe Arbeit in der Slowakei bekommen würde. Fünfzehn Minuten braucht sie mit dem Fahrrad, wenn es regnet, eine halbe Stunde zu Fuß.
Schon vor Juni hätte sie im Esztergomer Krankenhaus anfangen können zu arbeiten. Die Formalitäten dauerten. Erst als sich einen Monat lang, nachdem die Stelle ausgeschrieben worden war, keine Ungarn beworben hatten, durfte sie sie bekommen. Für ihr einjähriges Arbeitsvisum musste sie mehrmals nach Budapest reisen.
Ein wenig Angst hatte sie, als sie anfing, Arbeit zu suchen, und als sie die Stelle schließlich bekam, davor, was „die Ungarn“ zu ihr, über sie sagen würden. Obwohl sie selbst Ungarin ist, aber eben Ungarin der ungarischen Minderheit in der Slowakei. Sie spricht diese Mundart, über die die Leute drüben manchmal lachen, und wer weiß, was es sonst noch für Vorurteile gibt. Sie wiegt den Kopf hin und her.
Ihre Befürchtungen trafen nicht ein. Alle haben sie freundlich aufgenommen, das wiederholt sie mehrmals, als müsse sie sich entschuldigen für das, wovor sie Angst hatte. Sie war nicht die Erste, die „von drüben“ ins Krankenhaus arbeiten kam. Zu viert sind sie, zwei Kolleginnen waren schon vor ihr da. Manche der ungarischen Fachausdrücke musste sie anfangs lernen. Niemand von „den Ungarn“ im Krankenhaus hat sie deshalb strafend angeschaut oder etwas Schlechtes zu ihr gesagt.
„Ich hätte nicht gedacht, dass die Brücke so viele Verbesserungen für mich bringt“, sagt sie. Ein wenig aufgeregt, wie bei einem Bewerbungsgespräch, fügt sie hinzu: „Ich würde mich sehr freuen, wenn meine Stelle im Krankenhaus ein fester Arbeitsplatz wäre und wenn ich dort bis zur Rente bleiben könnte.“
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