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Brückenkopf der Schreiberlinge

1803 wurde der Presse im britischen Unterhaus eine eigene Sitzreihe eingerichtet und damit eine historische Schnittstelle zwischen Politik und Öffentlichkeit geschaffen – die „press gallery“ reizt auch nach 200 Jahren noch zu heftigen Kontroversen

aus London ULRIKE WINKELMANN

Die Rede war bedeutend und wurde mit Spannung erwartet: William Pitt, Expremierminister und immerhin so bedeutend, dass er bald wieder Premierminister sein würde, sollte zum bevorstehenden Krieg gegen Napoleon Stellung nehmen. Seit Wochen redete das politisch interessierte London von nichts anderem, und alle wollten kommen. Doch von der gewaltigen Menschenmenge, die am Nachmittag vor der Türe stand, sollte niemand mehr in die Zuschauerreihen des Unterhauses gelangen: Die Abgeordneten hatten schon am Morgen ihre Verwandten und Freunde durch den Irrgarten der Houses of Parliament ins Unterhaus geschleust. Auf diese Weise bekam kein einziger Reporter die historische Rede Pitts zu hören – und kein Wort stand davon am nächsten Tag in der Zeitung. Statt dessen zürnte die Times in einem Artikel gegen die Abgeordneten. Schon längst hatten die Reporter keine Lust mehr auf das knochengefährdende Gedrängel auf den Publikumsrängen. Der Unterhaus-Vorsitzende hatte ein Einsehen: Die letzte Reihe des Besucherbereichs solle doch bitte in Zukunft der Presse vorbehalten bleiben, wies er die Ordner an.

So wurde 1803 die „press gallery“ im britischen Unterhaus geschaffen – nach langen Abwehrkämpfen räumte das älteste Parlament der Welt der Presse einen Platz ein. Und als die Houses of Parliament Mitte des 19. Jahrhunderts nach einem verheerenden Brand neu gebaut wurden, bekamen die Parlamentsreporter sogar eigene Büros an einem engen Flur, den sie bis heute nur heruntergaloppieren müssen, um auf die schmalen Holzbänke ihrer Loge direkt über den Köpfen der Abgeordneten zu gelangen.

Die Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag dieser Bastion der vierten Gewalt rollen längst an: In den Redaktionen wird seit Wochen darum gerangelt, wer an den Tischen sitzen darf, die für das Festessen im Frühjahr beim Festkomitee gebucht werden können – für immerhin 120 Pfund (200 Euro) pro Nase, was die Großzügigkeit der Chefredakteure selbst gegenüber altgedienten Parlamentskorrespondenten einschränkt. Wichtige Politiker werden ebenfalls erwartet.

Und selber zahlen? So weit geht die Liebe der Reporter zu ihrem Arbeitsplatz denn doch nicht. „Ich glaube, hier sehe ich genug von den Leuten“, schnaubt Nick Watts vom Guardian und verschwindet zum Mittagessen mit dem Schatten-Finanzminister von der konservativen Tory-Partei. So unbarmherzig, wie die britische Presse über sämtliche Personen des öffentlichen Lebens herzufallen pflegt, so nah sind sich Reporter und Politiker doch im Alltag.

Die Tory-Kandidatin für das Londoner Bürgermeisteramt schlendert gern selbst durch die Büros und verteilt plaudernd ihre Pressemitteilungen, und in der Kantine wartet die einsame, vorige Woche abgehalfterte Bildungsministerin darauf, dass endlich jemand sein Tablett neben ihr auf den Tisch stellt und sie nach ihrem Befinden fragt.

Aktive Mitglieder von Tony Blairs Regierungsmannschaft sieht man dagegen nicht so häufig. Überhaupt ist das Verhältnis zwischen New Labour und den Parlamentskorrespondenten in letzter Zeit eher gespannt. Die Presse fühlt sich insbesondere von Alastair Campbell, Blairs Öffentlichkeitsarbeitschef, belogen. Campbell hatte Anfang Dezember den Medien nicht gleich alles darüber erzählt, wie Blairs Ehefrau Cherie dazu kam, die Studentenwohnung für ihren Sohn ausgerechnet von einem mehrfach verurteilten Hochstapler und Betrüger erwerben zu lassen. Das war jedoch bloß der Anlass für eine neue Umwälzung der Frage, wie viel Vertrauen zwischen Presse und Politik notwendig und wie viel davon schädlich ist. Über Campbell sprach Michael White, Chef des Guardian-Parlamentsbüros, ein zynisches Urteil: „Er versteht unter Wahrheit, womit man davonkommt.“

Die Parlamentskorrespondenten haben gemerkt, dass die Transparenz, die sich New Labour auf die Fahnen geschrieben hat, eine doppelbödige Angelegenheit ist. Blairs Büro in der Downing Street versorgt die Medien mit perfekt zubereiteten Informationspaketen, überarbeitet mehrfach täglich seine Internet-Seite, und zu den Regierungspressekonferenzen kann jetzt jeder kommen. Keine ungestörten gemeinsamen Mahlzeiten mehr, kein vertrauliches, informelles Netzwerk mehr, in dem Informationen in einem fein abgestuften Code von Offenheit und bedauernder Geheimhaltung zwischen Gentlemen ausgetauscht werden.

Doch weniger denn je erfährt die Öffentlichkeit, wie Entscheidungen eigentlich zustande kommen. „Je mehr sie den Betrieb formalisieren, desto weniger Informationen gibt es insgesamt“, sagt Chris Moncrieff, der seit vierzig Jahren Parlamentskorrespondent ist und zum Jubiläumsjahr 2003 auch zum Präsidenten der „press gallery“ gewählt wurde: „New Labour öffnet die Türen nach vorn, zu den Kameras hin, und schlägt sie uns hinten vor der Nase zu.“

Dass vor 200 Jahren die letzte Reihe der Zuschauerplätze für die Presse reserviert wurde, war wohlgemerkt kein Zugeständnis an die Eitelkeit der Politiker, die gern zitiert werden wollten, und auch keine Maßnahme zur Wahrnehmung öffentlicher Interessen. Man wollte halt die Reporter vor dem Gedränge schützen. Damals war das politische Establishment davon überzeugt, dass der parlamentarische Betrieb eher davon bedroht werde, dass nicht nur Laien lauschten, sondern auch Kenner, denen das Mitschreiben sowieso erst seit wenigen Jahren erlaubt war.

„Nach Meinung der Politiker war ihre Würde gefährdet“, sagt Andrew Sparrow vom Daily Telegraph, der gerade – also zum Jubeljahr – ein Buch über die Geschichte der „press gallery“ schreibt: Durch die Anwesenheit der Presse und das Wissen darum, dass man in die Zeitung käme, würden die spontane Unmittelbarkeit und ernsthafte Inhaltlichkeit ja ersetzt durch theaterhaftes Posieren, Paradieren und Pointensuchen, so das Argument – übrigens das Gleiche, wie es bis Ende des 20. Jahrhunderts gegen die Fernsehaufzeichnungen im Unterhaus vorgebracht wurde.

„Und natürlich“, sagt Sparrow, „ging es darum, dass Politiker nicht für alles haftbar gemacht werden wollten, was sie sagten. Ihre Worte sollten nicht gleichzeitig aufgeschrieben und interpretiert werden.“

Könnte sein, dass manche Probleme zwischen Politik und Presse ewig währen.

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