Überfälliger ARD-Tatort: Vietnam in Lichtenberg
Der Tatort „Am Tag der wandernden Seelen“ erzählt einen klischeefreien Krimi zwischen Berlin-Lichtenberg, Nord- und Südvietnam. Das war überfällig.
Die ARD hat es bislang versäumt, das Publikum an Trigger-Warnungen zu gewöhnen, die bei Streamingdiensten längst Usus sind. Das Manko fällt besonders diesen Sonntag ins Gewicht. Denn der RBB-„Tatort“ mit dem schönen Titel „Am Tag der wandernden Seelen“ erzählt eine grausame Geschichte.
Der Krimi ist besonders, im Visuellen, aber auch vom Plot her: Es handelt sich um das erste Drehbuch eines Berliner „Tatort“-Films, das in einem sogenannten Writers’ Room entstanden ist: An der Entwicklung waren Josefine Scheffler, Dagmar Gabler und Thomas André Szabó beteiligt. Regie führte Mira Thiel. Susanne Bonard (Corinna Harfouch) und Robert Karow (Mark Waschke) führt ihr zweiter gemeinsamer Fall nach Berlin-Lichtenberg. In einer Reihenhaussiedlung liegt ein Mann tot in seiner Wohnung. Und wo steckt die alte pflegebedürftige Mutter des Toten?
Ein seltsamer Fall. Und ein merkwürdiges Haus. Alles wirkt – irgendwie konserviert. Kommissarin Bonard wird es erst mulmig, dann schlecht. „Ich hätte ihn auch umgebracht“, sagt sie, mitgenommen aus dem Keller wankend. Denn da hat sich das Grauen schon offenbart: Karow stößt auf eine versteckte Tür im Haus, auf einen Folterkeller. Wahrscheinlich war der Tote ein perfider Sadist.
Bonard und Karow suchen nach einer flüchtigen, verletzten und wahrscheinlich traumatisierten Person, die den Folterkeller überlebt haben muss. Das Ermittlerduo taucht in die vietnamesische Lebenswelt Berlins ein. Bislang hat sich kein „Tatort“ diesen migrantischen Mitbürger:innen gewidmet. Es war also höchste Zeit.
Verdeckte Ermittlerin
Der nicht genug zu lobende Krimi entstand unter Mitwirkung der vietnamesischstämmigen Community. Das verhindert erfreulicherweise, dass sich der Plot in den üblichen Klischees verheddert. Eine erste Spur führt also nicht in ein Blumengeschäft oder ins Nagelstudio, sondern zur Tierärztin Lê Müller (Mai-Phuong Kollath) aus Charlottenburg. Frau Doktor kennt den Toten von früher und weiß mehr, als sie zugibt – aber sie traut der Polizei eben nicht.
LKA-Beamtin Pham Thi Mai (Trang Le Hong) ermittelt seit zwei Jahren verdeckt in der vietnamesischen Community und dient Bonard und Karow als Dolmetscherin, aber noch mehr als Mittlerin zwischen den Kulturen.
Sie spricht zum Beispiel Frau Müller mit „Tante“ an – aus Respekt vor dem Alter, nicht weil sie mit ihr verwandt ist. Und sie klärt Karow darüber auf, dass es Animositäten zwischen den Nord- und Südvietnamesen in Berlin gibt. Die einen – wie Doktor Müller – kamen als Vertragsarbeiter aus dem kommunistischen Vietnam in die einstige DDR; die anderen als Boatpeople vor Jahrzehnten nach Westberlin.
So gesehen ist dieser ambitionierte, facettenreiche, spannende und visuell außergewöhnliche „Tatort“ auch ein Lehrfilm. Die Ermittlungen führen Bonard und Karow schließlich zu einer Pagode für die Nordvietnamesen in Lichtenberg, die es übrigens wirklich gibt – so wie eine zweite in Spandau für die Südvietnamesen. In der Pagode haben die Seelen der Ahnen ihren Platz. Das kulturelle Zentrum der Gemeinde ist jedoch vom Abriss bedroht (wie übrigens auch in der Realität).
Ach ja, die Trigger-Warnung: Die Folter wird nicht gezeigt. Das Leiden lässt sich aber vorstellen, man hat ja genug eigene Bilder im Kopf – das ist schon schlimm genug.
Berlin-„Tatort“: „Am Tag der wandernden Seelen“, So., 20.15 Uhr; ARD; in der Mediathek auch mit vietnamesischen Untertiteln verfügbar
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