Kommentar Istanbul-Proteste: Ein irres Land

Alle, die dabei waren, sind sich einig: Die Türkei wird nie mehr so sein wie vor den Protesten. Doch was wirklich zählt, ist der Augenblick.

Selbst Menschen, denen diese Nationalmeierei stets peinlich war, können beim Protest Fahnen nun wenigstens tolerieren. Bild: ap

Dieses Land ist komplett irre. Wenn die Entwicklungen der vergangenen zwei Wochen etwas endgültig bewiesen haben, dann das.

Dieses Land ist komplett irre. Gäbe es ein internationales Ranking sinnloser Tötungsdelikte, der Türkei wäre ein vorderer Platz sicher. („Was guckst du so?“ − „Was sagst du da?“ − Zack!) Auch in Sachen Gewalt gegen Frauen geben die Türken noch immer eine beschämende Figur ab. Und zugleich sind die Menschen in der Lage, einander mit der größten Zärtlichkeit und Höflichkeit zu begegnen. Wer in diesen Tagen im Gezi-Park sieht, wie sie sich bei dem kleinsten Zusammenstoß über Gebühr entschuldigen, wer in einer flüchtenden Masse erlebt, wie sich die unterschiedlichsten Menschen umeinander kümmern, kann davon viel eher Tränen in die Augen bekommen als durch das Gas der Polizei.

Dieses Land ist komplett irre. Menschen, die noch vor ein paar Wochen füreinander Verachtung verspürten, stehen plötzlich Schulter an Schulter. Linksradikale und Liberale, Kurden und Kemalisten, Schwule, Lesben und – ja, auch das – gläubige Muslime und Anhänger der ultrarechten MHP („Graue Wölfe“), die Ultras der großen Istanbuler Clubs. Banker sind dabei, Arbeiter, viele, sehr viele Frauen. Sie alle führen einen gemeinsamen Kampf.

Das Bild der Woche: Ein Mann mit der Fahne der kurdischen BDP und eine Frau mit einer türkischen Fahne samt Atatürk-Konterfei flüchten eingehakt vor einem Wasserwerfer. Daneben steht ein Mann, der Finger zum Gruß der „Grauen Wölfe“ spreizt.

Zerrissen war die Gesellschaft immer nur auf politischer Ebene. Individuell sah die Sache anders aus. Kaum ein Linker, der keinen ultrafrommen Verwandten hätte, kein Kemalist ohne liberale Nachbarn. Wohl deshalb ist es möglich, dass Polizisten und Demonstranten spätnachts auf dem Taksim-Platz freundlich miteinander reden können: Reste feudaler Strukturen sind in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht immer schlecht.

Ein Land ohne Furcht

Dieses Land ist komplett irre. Weil es furchtlos ist. Bis vor ein paar Wochen tat man der Türkei kein Unrecht, sie als Land ohne Opposition zu bezeichen. Die Linken schwach und größtenteils von gestern, die Kemalisten zu elitär, der Rest, allen voran die Jugend, zu passiv. Und plötzlich entsteht eine Bewegung, die auf jede Gewalttat der Polizei damit reagiert, dass tags darauf noch mehr Menschen in den Gezi-Park strömen.

Dieses Land ist komplett irre. Wer mit den Hoteliers spricht, die den Protestierenden im Notfall Zuflucht geben, mit Businessleuten aus den umliegenden Büros, die dort zur Hilfe kommen, wo sie können, bekommt noch vor aller Kritik an der Erdogan-Regierung eines zu hören: Es geht um Menschlichkeit. Eine Phrase, unerträglich banal. Aber manchmal wahr.

Dieses Land ist komplett irre. Für einen Teil, einen großen sogar, war die Fahne immer schon das zweitgrößte Heiligtum nach der Jungfräulichkeit der eigenen Töchter. Doch auf einmal empfinden auch Menschen, denen diese neurotische Nationalmeierei stets peinlich war, so etwas wie Stolz und können Hymne und Fahne zumindest tolerieren.

Plötzlich entstanden, plötzlich verschwunden

Dieses Land ist komplett irre. Weil es so vergesslich ist. Knapp 17 Jahre ist es her, als nach dem Susurluk-Skandal, der weitreichende Verbindungen zwischen Politik, Sicherheitskräften, rechtsextremen Killern und Verbrechern an den Tag spülte, eine ähnlich spontane wie zivile Protestbewegung entstand, die das damalige Establishment in den Grundfesten erschütterte. Doch so plötzlich diese Bewegung entstanden war, verschwand sie auch wieder.

Bis vor ein paar Wochen konnte man ohne weiteres behaupten, dass die Erinnerung an die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 in der Gesellschaft präsenter ist als die Erinnerung an Susurluk. Auch jetzt sagt ausnahmslos jeder, der in den vergangenen Wochen in Istanbul, Ankara oder Kayseri auf der Straße war oder mit Töpfen und Pfannen in der Hand aus dem Wohnzimmer heraus protestiert hat, diesen Satz: Dieses Land wird nicht mehr dasselbe sein. Schön wär‘s. Aber man weiß nie. Denn dieses Land ist komplett irre.

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Von Juli 2007 bis April 2015 bei der taz. Autor und Besonderer Redakteur für Aufgaben (Sonderprojekte, Seite Eins u.a.). Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2011. „Journalist des Jahres“ (Sonderpreis) 2014 mit „Hate Poetry“. Autor des Buches „Taksim ist überall“ (Edition Nautilus, 2014). Wechselte danach zur Tageszeitung Die Welt.

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