Debatte Bewahrung von Kulturen: Vermischt euch!
Die Sehnsucht nach „unverfälschter Kultur“ ist über politische Lager und soziale Milieus hinweg beliebt. Das ist aber ein gefährlicher Irrglaube.
A ndalusien, Serrano-Schinken über dem Tresen, ausgestorbene Straßen zur Siesta – von so was wird auf Partys gern mal geschwärmt. Abends in Hinterhöfen dann Flamenco. Der Flamenco mit Seele, versteht sich, nicht der für Touristen. So toll, so ursprünglich, so echt. Eine gewachsene Kultur, ganz unverdorben von der Gleichmacherei durch McDonald’s und Starbucks.
Immer wieder hört man auf Familienfeiern oder Partys solche Geschichten. Sie spielen mal in der Toskana, mal in der Provence, mal anderswo. Kultur-Nostalgie ist über politische Lager und soziale Milieus hinweg en vogue. Doch die Sehnsucht nach unverfälschter Kultur, die sich hinter dem schwärmerischen Palaver verbirgt, ist ein gefährlicher Irrglaube. In letzter Konsequenz legitimiert das Beharren auf kollektive Verschiedenheit nämlich Ausgrenzung und Diskriminierung bis hin zu ethnischen Säuberungen und Völkermord. Ethnopluralismus ist nur auf den ersten Blick ein tolerantes, friedliches Konzept. Vielmehr ist es die gefährlichste intellektuelle Waffe der Neuen Rechten. Kulturen sind nicht per se schützenswert!
Seit Ende der 70er Jahre haben Autoren wie Alain de Benoist, Henning Eichberg und Pierre Krebs die rechte Ideologie grundlegend umgemodelt, indem sie auf die Abwertung vermeintlich minderwertiger Rassen verzichteten. Den belasteten Begriff der „Rasse“ ersetzten die Vordenker der Neuen Rechten durch „Ethnie“ und „Kultur“.
, 42, Journalist und Autor aus Leipzig. „Und morgen das ganze Land – Neue Nazis, befreite Zonen und die tägliche Angst“ heißt ein Buch von ihm.
Krebs forderte ein „Recht auf Verschiedenheit“ für alle Kulturen. Er wünschte sich eine „heterogene Welt homogener Völker, nicht umgekehrt“. Dieser Slogan des Ethnopluralismus spricht auch vielen antiimperialistischen Linken aus der Seele. Statt „american way of life“ und „Meltingpot“ soll das Ursprüngliche einer Kultur erhalten bleiben, selbst wenn jene, die von einer bestimmten Kultur sozialisiert sind, nicht mehr dort leben, wo die Kultur herkunftsbezogen verortet ist. So gedacht, fußt auch Multikulturalismus auf der Vorstellung bewahrenswerter Unterschiede kultureller Gruppen.
Deutsche wie ein Indianerstamm
Für Benoist schließt dieses Recht auf Verschiedenheit zwangsläufig auch „die Verpflichtung mit ein, dieses Recht auszuüben“. Mit anderen Worten: Unter allen Umständen muss verhindert werden, dass sich Kulturen vermischen. Das würde sie erst überfremden, dann vernichten.
Um die dämonisierte Vermischung zu verhindern, müssen Menschen – so der Schluss der Rechten – aus anderen Kulturkreisen ferngehalten werden. Eichberg hat folgerichtig ein „Kulturkonzept Deutschland den Deutschen“ propagiert. Denn natürlich muss Deutschen das gleiche Recht auf eigene Kultur zustehen wie einem bedrohten Indianerstamm. Die Brisanz des vermeintlich toleranten Modells einer Kulturenvielfalt ist evident: Im Ethnopluralismus ist der Ausländer nur so lange wertgeschätzt, wie er im Ausland bleibt.
Ethnopluralistische Botschaften sind allgegenwärtig. Die NPD verbrämt seit Jahren ihre Ausländerfeindlichkeit mit dem Recht auf kulturelle Verschiedenheit. Aber auch viele, die in Talkshows oder Foren für eine multikulturelle Vielfalt werben, beziehen sich implizit auf kulturelle Gruppenzugehörigkeit, wie sie Charles Taylor in seinem Essay „Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung“ begründet hat. Taylor ging es um die Wertschätzung und rechtliche Absicherung kulturell-ethnischer Gruppen. Dieses Modell des Multikulturalismus ist bei genauerem Hinsehen eine Art Ethnopluralismus im Miniaturformat.
Drohnen sind böse und töten auf Knopfdruck. Aber so ein Flugroboter kann auch gut und nützlich sein. In der taz.am wochenende vom 13./14. September 2014 lesen Sie, wie wir die Drohne lieben lernen. Außerdem: Ein Jahr nach Marcel Reich-Ranickis Tod spricht sein Sohn über den schweigsamen Vater und letzte Fragen am Sterbebett. Und: Kommende Woche stimmen die Schotten über die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich ab. Unser Korrespondent hat das Land bereist, das zwischen "Yes" und "No" schwankt. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Der Diskurs über gesellschaftliche Vielfalt kreist heute zwar stärker um Diversität, die jedem zugesteht, mit unterschiedlichen kulturellen Codes zu leben. Gleichwohl lebt das Ideal von „Multikulti“ weiter. Gegen Leitkultur oder Sarrazin wurde gern mit einem Bekenntnis zur multikulturellen Gesellschaft argumentiert. Der Philosoph Wolfgang Welsch erkennt im Multikulturalismus „bei allen guten Intentionen die Unterstellung einer kugelartigen Verfassung der Kulturen“. Wer in der Kugel gefangen ist, muss mitmachen – ob er will oder nicht.
Falsche Rücksicht
Allzu viel Verständnis für kulturelle Unterschiede kann fatale Folgen haben. Mitarbeiterinnen der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes haben schon vor Jahren falsche Rücksichtnahme der Behörden bei Fällen von Zwangsheirat und häuslicher Gewalt etwa unter türkischstämmigen Migranten beklagt. Und immer wieder haben Richter „Ehrenmördern“ ihre kulturelle Prägung zugute gehalten. Im März sagte ein Richter in Wiesbaden, ein Deutschafghane, der seine schwangere Exfreundin erstochen hatte, habe sich „aufgrund seiner kulturellen und religiösen Herkunft in einer Zwangslage befunden“.
Am Ende läuft es auf die simple Frage hinaus, was mehr zählt: Kultur oder Mensch. Kollektiv oder Individuum. Wer Kulturen über alles stellt, entmündigt den Einzelnen. Zwangsverheiratete türkischstämmige Mädchen müssten demnach die Familienehre achten, ohne Recht auf ein Glück abseits dieses archaischen Ehrbegriffs. Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob man sich frei zu einer Kultur bekennt oder dazu genötigt wird. Das eine ist Selbstbestimmungsrecht. Das andere Freiheitsentzug.
So charmant eine Welt verschiedener Kulturen erscheint, so wenig überzeugend kann der Ethnopluralismus sie herleiten. Denn welchem Kollektiv zu huldigen ist, bleibt willkürlich. Ist die fränkische Kultur schützenswert? Oder die bayerische? Die deutsche? Gar die europäische oder doch die der westlichen Welt? Für jede dieser „Kulturen“ lässt sich ein organisches Wachstum behaupten, dessen Status quo bewahrt werden muss.
Nichts ist in Stein gemeißelt
Heißt das nun im Umkehrschluss, Kulturen seien wertlos? Natürlich sind einzelne Kulturgüter schützenswert. Doch schon beim Schutz der Sprache muss man genau unterscheiden. Wenn Kurden in der Türkei den offiziellen Gebrauch ihrer Muttersprache einfordern, berufen sie sich auf ein Menschenrecht. Wenn aber in Frankreich ein Gesetz zum Schutz der französischen Sprache erlassen wird, das Fremdwörter aus dem öffentlichen Gebrauch verbannen will, greift das in absurder Weise in individuelle Freiheitsrechte ein. Sprachen sind ein gutes Beispiel dafür, dass Kulturen nicht in Stein gemeißelt sind, sondern sich entwickeln. Natürlich heißt es T-Shirt und nicht „T-Hemd“. Das sagen nur Sympathisanten der NPD.
Trotz seiner Widersprüche ist Ethnopluralismus europaweit ein populäres politisches Programm. Wenn etwa schottische Nationalisten die Unabhängigkeit anstreben, können sie sicher sein, viele Europäer auf ihrer Seite zu haben. Klein gegen groß. Selbst- gegen fremdbestimmt. Befreiungsnationalismus wird von links bis rechts als legitim angesehen.
Vergessen wird häufig, dass es diesen Bewegungen oft in erster Linie nicht um demokratische Selbstbestimmung, sondern um Nationalismus geht. Von friedlicher Staatsgründung bis zum Massenmord – unter dem Banner des Befreiungsnationalismus ist alles möglich. Im zerfallenden Jugoslawien endete der kollektive Wahn einer Sehnsucht nach ethnischer und kultureller Reinheit für Tausende in Massengräbern. Lange hatten serbische, kroatische und bosnisch-muslimische „Ethnien“ friedlich zusammengelebt. Bevor im Namen der jeweiligen Kultur vertrieben, vergewaltigt und gemordet wurde. Die „ethnischen Säuberungen“ zeigen drastisch, was passiert, wenn nur noch Kulturen und Völker zählen und nicht mehr der Mensch.
Menschen sind wichtiger als Kulturen. Wer will, soll Traditionen pflegen. Wer das nicht will, hat jedes Recht, es zu lassen. Wir brauchen auch keine Leitkultur. Wir haben Gesetze. Kulturelle Reinheit ist ohnehin eine Illusion. Auch das geliebte, unverdorbene Andalusien ist ein wildes Mosaik. Überall haben die Mauren ihre Spuren hinterlassen. In Granada die Alhambra, in Sevilla die Giralda. Menschen vermischen und verändern sich. Kulturen auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?